Schlagloch: Super, hyper, mega
■ Von Klaus Kreimeier
„Wegen der vielen Comedy-Sendungen werden die Gagschreiber knapp.“ „Spiegel“, Nr. 42/1999)
Die byzantinische Kultur soll an der Überfeinerung der sinnlichen Bedürfnisse zugrunde gegangen sein. Das könnte der westlichen nicht passieren; mit früheren Verfallsperioden teilt die gegenwärtige nur den stumpfsinnigen Hang zur Redundanz und zur Überproduktion. Von allem ist einfach zu viel da – ob man nun den täglichen Zentner Hauspostwurfsendungen durchwühlt, ob man im Stau steht oder in der Kneipe vor der dröhnenden Diktatur des jeweiligen musikalischen Kraftwerks vergeblich in eine ruhige Ecke auszuweichen sucht. Zu viel bunt bedrucktes Papier, zu viele Autos, zu viel Krach.
Hypertrophie heißt der medizinische Fachbegriff, der versuchsweise auf soziokulturelle Phänomene anzuwenden wäre: Was geschieht mit einer Gesellschaft, deren Organismus in dramatischem Umfang von Gewebevergrößerung in Folge rasanter Zellenvermehrung befallen ist? „Hyper-“, „Super-“, auch „Mega-“ sind Präfixe, die im sprachlichen Bereich diese erstaunliche Entwicklung hilflos signalisieren – hilflos, weil sie von den sprachprägenden Instanzen, denen vor allem die Werbung zuzurechnen ist, mit frenetischer Begeisterung besetzt werden und insofern für eine Analyse des Tatbestands untauglich sind.
„It's all fun and games“ – dieser Slogan einer expandierenden Computerspiele-Industrie lässt als Spaßereignis einer dem Fluch der Materie entronnenen Gesellschaft erscheinen, was eher auf ihren Niedergang verweist: den pathologischen Drang zur Expansion. Stefan Raabs Show „TV total“ ist ebenso wie Jürgen von der Lippes CD mit klassischer Lyrik Produkt eines schizophrenen kulturellen Zustands, der permanent kollabiert und gleichzeitig Metastasen hervortreibt.
Die Erschöpfungszustände, in die nicht nur die einzelnen Mitglieder unserer Gesellschaft, also wir alle, sondern auch unsere Institutionen, unsere Idole und Zirkuspferde von Zeit zu Zeit versinken, mögen zahlreiche Ursachen haben; nicht zuletzt aber sind sie darauf zurückzuführen, dass es zu viel Programm, zu viele Appelle, Aufforderungen, Anforderungen, Angebote, Dienstleistungen, zu viel Sport, Politik, Kultur, Verwaltung, vor allem aber zu viele öffentliche, mit Schlaghammer und Brecheisen produzierte Heiterkeitsausbrüche gibt. Dies ist übrigens keine Frage der Qualität. Unsere Dienstleistungen können sich sehen lassen, und die Spaßvögel, deren Ehrgeiz es ist, uns auch nicht eine Sekunde dem Anflug eines trüben Gedankens zu überlassen, sind gut trainiert. Es gibt nur zu viele.
Den Mangelgesellschaften, die noch immer die größeren Flächen unseres Globus besiedeln, stehen die traditionell so genannten „Überflussgesellschaften“ gegenüber, die genauer als manisch-makrosome [medizinischer Ausdruck für riesenwüchsig; A.d.Red.] Gesellschaften zu definieren wären, wollte man die von Baudrillard beobachtete „Obszönität“ des Prozesses kennzeichnen: Etwas Dickliches, unangenehm Breiiges entquillt unablässig den noch vorhandenen kreativen Energien der westlichen Welt und lagert sich als Design, als Gerede, als Reklame, als Service, als Recycling und gelegentlich als philosophische Aufwallung auf den Oberflächen der Kultur ab.
Und auch als Moral: Jedes System treibt seine Ethik und seinen ethischen Diskurs hervor; ist Politik rational nicht mehr begründbar, ruft sie nach moralischer Legitimation. Von der „Fettsucht aller Systeme“ spricht Baudrillard. Eben diese Fettsucht erklärt, warum der Begriff „Globalisierung“ zum Donnerwort der späten Neunzigerjahre und das Größer- und Dickerwerden allein zum Ersatz für Politik werden konnte.
Leicht betäubt, eingemummt ins Rauschen der Redundanzen, suchen wir nach einem Winkel, wo wir das unterbringen könnten, was unser Alltag zu nennen wäre. Zu viele Möbel stehen herum, von Scheinwerfern angestrahlte Kisten, in denen die Poltergeister der Postmoderne rappeln. Es geht zu – und hier finden sich durchaus Parallelen zum Niedergang des oströmischen Imperiums – wie auf einer Geisterbahn. Da alles schon einmal da war und nur die Spirale der Überproduktion funktioniert, holt uns in Permanenz Vergangenheit ein: als Diskurs, als Comedyserie, als Denkmalsdebatte, als Musikantenstadl oder auch als Bischof Dyba in Person. Wer im Scheinwerferlicht steht, überzieht schnell die Sendelänge oder tendiert dazu, den Bildschirm zu sprengen. Der letzte Kanzler wurde immerhin abgewählt, als seine in sich ruhende Makrosomie ein nicht mehr zu übersehendes Bildsymbol für Stagnation geworden war und der Kanzler selbst zum Abbild seiner eigenen Redundanz.
Doch der Paradigmenzwang, dem sich Schröder unterzieht, um die politische Symbolik seines Vorgängers einzuholen und womöglich zu überbieten, ist atemberaubend und gleichzeitig deprimierend, wenn man den Kostüm- und Requisitenfundus betrachtet, aus dem er sich bedient. Der Brioni-Anzug und die dicke Havanna sprechen keineswegs, wie man früher diagnostiziert hätte, die Sprache der „Machtarroganz“, sondern die einer ehedem von sozialdemokratischem Klassenneid eingefärbten, inzwischen längst saturierten und dennoch unstillbaren Sucht nach Mehr; einer Sucht, die sich beinahe sklavisch an Ludwig Erhard orientiert und dabei groteskerweise die schon verstaubten Kapitalistenkarikaturen von George Grosz kopiert. Tragisch nur, dass die Zigarre von Ludwig Erhard nicht nur für Aufschwung, sondern auch für eine bedeutend seriösere Sozialpolitik stand.
Manisch-makrosome Gesellschaften wie die unsere sind nicht von Stillstand bedroht, sondern von Bewegung. Einer Bewegung, die – da sie nichts als leere Rotation hervorbringt und dem Gesetz der Zellenvermehrung unterworfen ist – in einen komatösen Zustand münden könnte, der uns nicht weiter auffällt, weil die Radios weiter kreischen, die Großkonzerne weiter fusionieren und an jeder Ecke Figuren herumstehen, die sich in irgendeiner Konkurrenz gegenseitig zu überbieten zu suchen.
Der Überbietungsgestus, der alle Trainings- und Fitnessprogramme dominiert und, von der Ökonomie ausgehend, auch den Rest der Zivilisation unter das Kommando der Wirtschaft stellt, simuliert Dynamik und die Fähigkeit zur Regeneration. Doch wenn multinationale Unternehmungen aus den Nähten platzen und die Börsenspekulation die Zirkulation des Kapitals in offenbar unkontrollierbare Umlaufbahnen jagt, muss der Hirntod – bei im Übrigen funktionierenden Organen – bereits vorausgegangen sein.
Dabei kann die Fettsucht der Systeme keineswegs verbergen, dass auch in den manisch-makrosomen Gesellschaften Mangel herrscht. Es gibt einen Mangel an produktiver Arbeit, Mangel an selbstbestimmter Zeit, Mangel an Glück – Defizite übrigens, welche die Menschen der westlichen Zivilisation brüderlich-schwesterlich mit den Menschen der Armutsgegenden verbinden. Auf die Globalisierung der Konzerne, die von den Zentren aus die Peripherie verschlingt, antwortet die Globalisierung des Mangels und sickert von den Rändern in die Kerngebiete ein. Sie könnte eine Chance sein – Chance für einen Abschied von der Hypertrophie.
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