: Schlaflose Schäfchen
Im Tierhimmel ist die Hölle los: Die Verwaltung hat die Lage kaum mehr im Griff
HIMMEL taz ■ „Wir stehen am Rande des völligen Chaos!“ Kopfschüttelnd weist der zuständige Engel Franziskus von seiner Bürowolke auf die endlose Reihe von Schäfchen, Schweinen und Rindern, die sich vor der Himmelspforte eingefunden hat. „Aber wir packen das!“, zeigt sich Franziskus zuversichtlich und klappt seine Kladde entschlossen zu, bevor er uns durch den Tierhimmel führt.
Seine Sorge ist nur allzu verständlich. Das begreifen wir schnell, als wir der katastrophalen Zustände ansichtig werden, die seit einiger Zeit an jenem Ort herrschen, an dem die unsterblichen Seelen zu Tode gekommener Tiere untergebracht werden müssen. Zu Abertausenden stehen sie blökend, grunzend und muhend vor der Himmelstür, flattern unsicher mit den noch ungewohnten Flügelchen und warten mehr oder weniger geduldig auf ihre Abfertigung.
„Wir sind hier oben ja einiges von euch da unten gewohnt, aber das, was jetzt gerade los ist, schlägt dem Fass die Krone aus“, murrt Franziskus, und uns scheint, als könnten wir den Hauch eines Vorwurfs in seiner Stimme erkennen. „Unser gesamter Verwaltungsapparat droht zusammenzubrechen, unsere Kapazitäten sind nicht nur erschöpft, sie sind gnadenlos überlastet“, stöhnt er, während wir uns durch die unzähligen, dicht aneinender gedrängten Astralleiber quetschen. Überall laufen schwitzende Engel mit Registrierblöcken herum und versuchen, zumindest einen groben Überblick über die Neuzugänge zu gewinnen. Jetzt zieht Franziskus ein Taschentuch hervor und wischt sich über die schweißnasse Stirn. „Unsere Wolken sind alle restlos überfüllt, hier geht alles drunter und drüber!“
Wir beobachten betroffen, wie eine Karawane von ungefähr hundert Kühen, angeführt von einem Engel, in Richtung der für sie bestimmten Wolke flattert.
„Die sind erstmal versorgt“, sagt Franziskus, „Aber das ist ja nur ein Tropfen auf den hohlen Zahn. Wahrscheinlich werden wir an Wolke 9 und Wolke 14 anbauen müssen, aber wer soll das machen? Wir haben keine Möglichkeit, hier noch Arbeitskräfte für Handwerkertätigkeiten abzuziehen. Die Kollegen haben allesamt die Grenzen der Belastbarkeit erreicht.“
Tatsächlich sehen die Engel nicht sehr glücklich aus, eher wirken sie ausgemergelt, überarbeitet und am Ende ihrer Kräfte. Sie tun uns Leid. Wir fragen Engel Franziskus: „Wie oft dürfen Sie und Ihre Kollegen denn Pause machen?“ Franziskus lacht sarkastisch: „Pause? Ha! Pause gibt es nicht für uns, Sie sehen ja, was hier los ist!“
Wir folgen seinem Blick in eine Himmelsecke, wo gerade ein Tumult ausgebrochen ist: Drei Engel versuchen, ein paar Kühe, Schafe und Schweine zu trennen, die aufgrund der vorherrschenden gereizten Stimmung aufeinander losgegangen sind.
„Keine Pausen?“, fragen wir besorgt. „Gibt es hier denn keinen Betriebsrat?“ – „Betriebsrat . . .“ entgegnet Franziskus bitter, „schön wär’s. Aber das lässt Gott, der Herr nicht zu. Der letzte, der hier versucht hat, einen Betriebsrat zu gründen, der gute Luzifer, ist achtkantig geflogen!“
Franziskus führt uns zum Schafabfertigungsposten. „Hier ist es am schlimmsten“, sagt er und deutet mit dem Kopf in Richtung Zählstelle. Wir sehen sofort, was er meint: Der eingeteilte Schäfchenzählengel befindet sich lang hingestreckt im Tiefschlaf. „Alle zwanzig Minuten müssen wir hier das Personal austauschen.“
Wir beenden den Rundgang und folgen Engel Franziskus zurück auf seine Bürowolke. Dort sieht er uns lange, sehr lange schweigend und vorwurfsvoll an. Uns wird ganz unbehaglich, denn wir ahnen, dass die Gattung, der wir angehören an dieser himmlischen Katastrophe nicht ganz unschuldig ist. Dann fragt Franziskus uns mit ernster Stimme: „Was habt ihr euch eigentlich dabei gedacht? Denkt ihr überhaupt irgendwann irgendwas? Habt ihr denn gar kein Mitgefühl mit euren vierbeinigen Brüdern und Schwestern? Oder gar mit uns Engeln, die wir hier durch euer Tun unendliche Überstunden ableisten müssen? Dass wir nicht mal Zeit für ein Tässchen Nektar haben? Meine Dame, kann ich Ihnen vielleicht etwas zu trinken anbieten? Auch etwas Gebäck?“ Fragen, Fragen und keine Antworten; doch je mehr wir das Paradies betrachten, desto mehr Grausen überkommt uns. Wir müssen schließen, wir können nicht weiter . . .
CORINNA STEGEMANN
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