Schirm & Chiffre: Kreuzberger Standortnachteil
■ Medien in Berlin: Berlins erstes Jazzradio geht auf Sendung
Jazzfans sind eine von den Radiosendern sträflich vernachlässigte Minderheit. Sie werden mit „Superhits“, „Softhits“ und „Superoldies“ traktiert, als gelte es, ihnen den guten Geschmack auszutreiben. Doch damit ist es nun vorbei. Jetzt gibt es einen Sender, der rund um die Uhr Jazz pur senden will: Jazzradio Berlin. Seit einigen Tagen werden den Jazzfans im Probebetrieb Appetithäppchen verabreicht.
Die als „Querschnitt des künftigen Programms“ präsentierte Mischung ist eine noch etwas unvermittelte Abfolge von Blues, Swing, Akustikstücken aus den fünfziger und sechziger Jahren sowie Latin-Jazz und ein bißchen Fusion. „Wir spielen Mainstream-Jazz“, kündigt die Chefin des Senders, Wilhemina Steyling, an. „Alles außer Dixieland und Free Jazz, das liegt zu schwer im Magen.“
Noch läßt sie die HörerInnen alleine mit der wilden Mixtur. Nur ab und an meldet sich eine freundliche Männerstimme, die den baldigen Vollbetrieb ankündigt. Der Start ist derzeit für den 24. April geplant. „Bleiben Sie also dran. Wir hören bald schon mehr voneinander.“ Interaktives Radio? fragt man sich leicht irritiert. Wohl kaum. Immerhin steht für die FrühaufsteherInnen sonntags von acht bis zwölf „Wunschmusik“ auf dem Programm. Auch das übrige Programmschema kommt eher konventionell daher – mit „Soft Jazz“ zum Aufwachen, „Dinner Jazz“ zum Abendessen und den Jazz Charts am Sonntag. Jazz für (fast) alle Lebenslagen. Warum gibt es eigentlich noch keinen Kuscheljazz?
Vielversprechend klingen die von den ModeratorInnen zusammengestellten Sendungen: Sigi Busch, Bassist und Professor an der Hochschule der Künste, wird in seiner Sendung „Potsdamer Platz“ „junge Musiker auf dem Weg zur Weltbühne“ vorstellen. Täglich um 16 Uhr schickt Christian Broecking die HörerInnen auf eine Entdeckungsreise. „Jazz Discovery“ heißt das Programm, das neben Live-Aufnahmen auch Orientierungshilfe für das Abendprogramm bietet. JazzmusikerInnen, die abends in Berlin auftreten, werden ins Studio eingeladen. Gelegentlich sollen Bands auch mal live im Sendestudio in der Pestalozzistraße spielen. „Eine Bigband paßt allerdings nicht rein“, scherzt Steyling. Der Musikanteil des neuen Senders wird bei 90 Prozent liegen, geplant sind aber auch Kurzinterviews und Portraits von JazzmusikerInnen.
„Die Berliner Jazzszene kann mit unserer Unterstützung rechnen“, sagt Wilhelmina Steyling, eine Holländerin, die Deutsch mit amerikanischem Akzent spricht. Seit 1991 betreibt ihre Firma Jazzradios in Holland und der Schweiz. In Deutschland gibt es mit der recht erfolgreichen Jazzwelle plus in München erst einen einzigen Sender, der sich dem Jazz verschrieben hat. Für Berlin erhofft sich Steyling 25.000 HörerInnen stündlich. Als Zielgruppe nennt sie vor allem die 25- bis 39jährigen.
Drei Jahre lang hat sie sich bei der Landesmedienanstalt um eine Frequenz bemüht. Neben der Kabelfrequenz 102,45 ist Jazzradio Berlin nur auf Mittelwelle 603 zu empfangen. Ganz glücklich ist Steyling damit verständlicherweise nicht. Es klingt, als hätte man einen Piratensender erwischt, es pfeift und rauscht, und die Musik ist zu allem Überdruß nur in Mono zu empfangen. Spätestens jetzt erweist sich die unverkabelte Kreuzberger Altbauwohnung als nicht wettzumachender Standortnachteil.
Auch der Weltempfänger – ein Spontankauf bei Karstadt, um morgens beim Zähneputzen die BBC-Nachrichten zu hören – ist der neuen Anforderung nicht gewachsen. Wegen des scheppernden Klangs möchte man ihn am liebsten in den Hinterhof werfen. Mit der Zeit gewöhnt man sich dann doch an den verrauschten Mono-Sound und entdeckt den kosmopolitischen Charme der Mittelwelle. Abends schnappt man beim Versuch, den Sender möglichst exakt einzustellen, polnische oder tschechische Wortfetzen auf. Dann stellt sich das Gefühl ein, selbst ganz weit weg zu sein. Das hat was. Dorothee Winden
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