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Schirm & ChiffreGenug Produktsex trotz Volksempfängerqualität

■ Medien in Berlin: Internetradio. Am Samstag waren The Orb in der Waldbühne und im WWW – eine Europapremiere

That's Technotainment: Eine Stadt unter einem Groove. Junge Männer mit Baseballmützen sitzen in ferngesteuerten Cabrios, kleine Love-Parade-Satelliten auf der Suche nach der besten Party. Kiss FM pumpt den Beat 60 Stunden lang direkt vom Love-Boat- Soundsystem in deinen Empfänger.

Die Moderatoren, die sich jede Stunde zum Werbeblock melden, wirken aber irgendwie desorientiert. Egal welche Party sie gerade besuchen, Ekstase will sich nirgends so recht einstellen. Vermutlich deswegen, weil alle gleichzeitig überall sein können. Marketingtechnisch ist die Sache klar: Wer Massen erreichen will, muß Massenmedien benutzen.

Noch mehr überall als Großvaters Volksempfänger aber ist das Internet, und unter dem Vorzeichen des großen Hypes expandieren die mittelständischen Technounternehmen unaufhaltsam in den Cyberspace.

Das Technomagazin Frontpage ist bereits im World Wide Web vertreten, und die Kollegen vom Flyer bereiten gerade ihre Homepage vor. Nicht von ungefähr also lancierte man zur Love Parade ein spektakuläres Projekt: Charlie Chaplins „Goldrausch“ featuring The Orb, Samstag abend in der Waldbühne und zeitgleich im WWW.

Es handelt sich um nicht weniger als die Europapremiere einer neuen Übertragungstechnik für Sprache und Musik im Internet. Während die Ambient-Pioniere von The Orb also am Ort des Geschehens akustische Panoramen erstellen, sitzt die Technoavantgarde vor dem Schirm und den Lautsprechern.

Ambient ist Musik, die als akustische Innenarchitektur fungiert, deswegen ist nicht so recht nachvollziehbar, warum man Soundtracks für Bilder im Kopf mit Stummfilmen garnieren muß. Ein weiteres Paradox, das sich nur aus marktstrategischen Überlegungen erklären läßt.

Einer Internetübertragung ohne visuelle Reize scheinen die Veranstalter ebenfalls nicht zu trauen: neben der Musik werden Fotos aus der Waldbühne angekündigt. Dabei ist Ambient, wie gesagt, eine ziemlich plastische Angelegenheit und Internetradio eine neue Technologie, deren Produktsex eigentlich ausreichend animieren sollte. Jeder Datenreisende kann sich die nötige Software frei aus dem Netz besorgen, Anbieter von Netzradio- Programmen dagegen müssen die Sendersoftware kaufen.

Aber wie immer hört sich alles einfacher an als es ist. Eigentlich muß der interessierte Nutzer nur den Downloadbutton drücken, doch wo ist der Real/Audio- Player, den man angeblich gerade heruntergeladen hat? Volker, Poweruser der ersten Stunde, Anwender und somit Angehöriger der Zielgruppe, hat nach drei Stunden Nachtarbeit schließlich alles im Griff: Der Audio-Player hatte sich unbemerkt in einem unscheinbaren Ordner abgelegt und alle Installationsroutinen autonom erledigt.

Nach diversen weiteren Feinjustierungen des Betriebssystems sind wir endlich bereit. Die Überschrift verkündet: „Really, that's live!“ Was sich schnell als Euphemismus herausstellt. Es ist 22 Uhr und das Konzert in der Waldbühne fängt jetzt an. Wir drücken den Konzertknopf, um die kryptische Botschaft zu erhalten, daß „404 nicht connected“ sei. Zeit also, um den diversen links nachzugehen.

Die Qualität der Übertragungen von Real/Audio entspricht Langwellenradio, erklärt die Frequently-Asked-Questions- Liste des Herstellers. Die Wildpark-Site, auf der die Übertragung stattfindet, ist noch eine Baustelle, die Flyer-Homepage noch leer. Nach diversen weiteren Sprüngen durchs Netz kehren wir zurück. Es gibt immer noch vier digitale Love-Parade-Polaroids, die wir uns gerne anschauen. Um 23.18 Uhr ist es schließlich soweit, Track 1 wird übertragen.

Volker ist euphorisiert, es funktioniert! Was durch die angeschlossene Stereoanlage dringt, hört sich an wie der 8-Bit-Chip meines Anrufbeantworters. Auch wenn es komisch klingt und nur mono ist, es ist eindeutig The Orb. Auf Track 4 entziffern wir ein Edvard-Grieg-Sample. Der Sound bleibt weiterhin gruselig, so müssen sich wohl die Leute gefühlt haben, die zum erstenmal eine Stimme aus dem Radio hörten.

Nach Track 5 und 45 Minuten später ist das Konzert vorbei. Unsere Toningenieure am anderen Ende der Leitung teilen uns mit, daß sie jetzt auf eine Party gehen und das vollständige Konzert am Montag auf derselben Seite liegen wird. Dann wird die Leitung gekappt.

Die electronic frontier wurde wieder ein Stück in den imaginären Westen der technologischen Entwicklung vorangetrieben, wir waren dabei und sind irgendwie zufrieden. Wie sagte der Junge in dem tschechischen Kinderfilm? „Wir machen jeden Tag, und zwar in jeder Hinsicht, immer mehr Fortschritte.“ Ulrich Gutmair

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