Schirm & Chiffre: Die Information bleibt weiterhin teuer!
■ Von „Spiegel“ und „Bild“ bis zum Kunstfanzine haben Zeitschriften das Netz als Spielplatz für sich entdeckt
Die wirklich interessanten Dinge passierten mal wieder im Abseits. Während man sich letzte Woche in der Stadt auf die Love Parade vorbereitete, geschahen in der Kastanienallee merkwürdige Dinge. Aus einer VEB-Straßenlaterne schoß nämlich eine Wasserfontäne und bewässerte über Stunden das Trottoir. Aufmerksame Hausbesetzer stellten gleich Marienbilder vor der Lampe auf, die Atheisten von der Feuerwache um die Ecke, Agenten der Normalität, machten dem Wunder dann aber schnell ein Ende.
Auch im Netz, das selbst biedere Telekom-Manager toll fanden, weil es so anarchisch ist, scheint sich am Ende die Sehnsucht nach dem Familiären durchgesetzt zu haben: Man drängelt sich auf den Seiten von Spiegel,TV Today und Stern wie auf dem 17. Juni am Wochenende. Per Spiegel-Seiten kann man sich schon mal auf die elektronische Demokratie von morgen vorbereiten. Dort wird jeden Tag eine neue Frage zur Abstimmung gestellt. Letztens ging es etwa darum, herauszufinden, wie viele Netties für oder gegen die Europäische Währungsunion sind. Einfach mal so, ohne vorhergegangene Debatte. Die Besucher der Spiegel-Page jedenfalls haben sich dagegen entschieden. Auf den Seiten der TV Today kann sich das Couchpotato dagegen schnell und bequem den Fernsehtag organisieren. Wie man sieht, führt das Netz als neues Spielzeug der Medienmonopolisten zu nichts als zur Radikalisierung des alltäglichen Wahnsinns.
Dabei bieten schon die unabhängigen Netzangebote aus Berlin Möglichkeit, sich nächtelang mit Dingen zu beschäftigen, die man nie in einer Bibliothek finden wird. Auf The Thing (http:// www.thing.de) wurde mit der Biographie Robert Calverts vor kurzem ein interessantes Kapitel der Popgeschichte ans Licht gebracht.
Calvert war über Jahre hinweg Frontmann der notorischen und inzischen 27jährigen Hippie- Band Hawkwind, deren Bedeutung für die Punkexplosion 1976 wohl neu bewertet werden muß. Autor Knut Gerwers weist auf den erstaunlichen Fakt hin, daß Hawkwind unter Calverts Ägide ganz unhippiemäßig technophil gewesen sind. Der Mann mit der Pilotenbrille gab eine Mischung aus Johnny Rotten und Jaron Lanier, bevor irgend jemand deren Namen buchstabieren konnte, und wird als früher Vertreter der neuen Technokultur hier ausführlich gewürdigt.
The Thing ist übrigens ein gutes Beispiel dafür, wie das Massenmedium World Wide Web den guten alten Mailboxen das Wasser abgräbt. Einige der alten Thing-Bulletin-Board-Systeme sind schon wieder Geschichte, während in Amsterdam und Frankfurt neue Things fürs WWW entstanden sind.
In der Internationalen Stadt (http://www.is.in-berlin.de) boomt vor allem die Liste der Kunstprojekte: „Tropic of Cancer“ hat wieder einmal Anlaß gegeben, über die Unterscheidung zwischen Kunst im Netz und Internet-Kunst nachzudenken. Wie ihre Vorgängerin, eine Reise durch die Arktis, erweitert diese Tour durch Mexiko die Erkundung unbekannter Gegenden zur Konstruktion paralleler Kommunikationlandschaften. Gleich daneben befindet sich „Siberian Deals“, ein ähnlich konstruiertes Projekt, das inzwischen schon Netzkunstgeschichte ist. Auf den Seiten der Galerie allgirls wird die unrühmliche Vorgeschichte der gerade angelaufenen Ausstellung „nach weimar“ aufgedeckt.
Sowohl The Thing als auch die Internationale Stadt haben ein ausführliches Angebot von unabhängigen Printmedien ins Netz agebracht. Das Hamburger Girliefanzine Neid findet sich wie der Berliner Salbader auf The Thing nahezu vollständig im Netz dokumentiert, während das Medienkunstzine Pakt standesgemäß eine eigenständige Netzversion mit Kurztexten der aktuellen Printausgabe bereithält, weil: Information bleibt weiterhin teuer! Die Internationale-Stadt-Site beherbergt seit kurzem die Online- Version der Berliner Frauenzeitschrift Blau. Dort wiederum finden sich neben intelligenten Ausführungen über Girlism, Musik und Sport auch regelmäßig Anmerkungen zu netzrelevanten Themen wie der Zensur.
Der Begriff censura verweist unter anderem auf Vermögenseinschätzung, erfährt man hier. Das ist bezeichnend, fordern doch vor allem kommerzielle Netzanbieter die freiwillige Selbstkontrolle. Ob solcher Eingriff ins Netz die philosophischen Fragen klären kann, die sich aus neuen/alten Phänomenen wie dem der psychischen Gewaltanwendung im Netz ergeben, ist fraglich. Der Berliner Feuerwehr und der Bild- Online ist das allerdings sowieso egal. Ulrich Gutmair
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