Schiffsunglück vor Ägypten: „Er war nur 15 Jahre alt“
Vor Ägyptens Küste ist ein Flüchtlingsboot gekentert. Dutzende ertrinken. Unklar ist, wie viele Menschen an Bord waren. Angehörige trauern.
Diese Zahl der Todesopfer könnte noch dramatisch nach ober schießen. Die entscheidende Frage ist, wieviele Menschen tatsächlich an Bord des Schiffes waren, das für maximal 50 Menschen ausgelegt war. Die Berichte variieren: zwischen 300 und 600 Passagiere sollen es gewesen sein. Es könnten also noch bis zu 400 Menschen vermisst sein, wenn tatsächlich 600 an Bord waren. Vier Personen wurden im Zusammenhang mit dem Unglück festgenommen.
Wenige Stunden nach dem Unglück kursieren in den sozialen Medien in Ägypten bereits die ersten Videos zu dem Unglück. Eines zeigt die Einfahrt eines Fischkutters in den Hafen, übervoll mit Geretteten. Einer der Fischer aus Borg El-Meghasi sagt: „Das ist nur ein Teil von denen, die auf einem einzigen Schiff waren. Das waren nicht zehn Flüchtlingsboote, all diese Menschen waren auf einem Schiff. Auf einem Boot das kleiner ist als dieser Fischkutter waren 550 Menschen drauf. Manche hier im Dorf sagen, es waren sogar 600.“ Die meisten würden immer noch vermisst.
Der ägyptische Fischer ist sichtlich aufgebracht. „Weder die Regierung, noch die Armee hat die Leute gerettet. Das waren unsere Fischer, die rausgefahren sind. Ich sage das nur, weil sie (die Behörden, Anmerkung der Redaktion) in den Medien erzählen werden, dass die Marine, die Armee und die Polizei das gemacht hat.“
Die Flasche im Meer
In den ägyptischen Fernsehstationen kommen die Überlebenden zu Wort, die ins Krankenhausder Küstenstadt Rosetta gebracht wurden. Weil sie ein Verfahren wegen illegalen Grenzübertrittes erwarten müssen, sind sie mit Handschellen an die Betten gekettet. Ein junger Mann beschreibt seine Odyssee: „Es war ausgemacht, dass ich für die Überfahrt umgerechnet 1.500 Euro zahle, aber nur wenn ich angekommen bin“, sagt er. Er sei mit einem kleinen Schlauchboot losgefahren. Dann seien sie auf ein Holzboot umgeladen worden, um die 150 Leute, erinnert er sich. „Anschließend fuhren wir eineinhalb Stunden zu einem größeren Boot raus. Da waren bis zu 500 Menschen drauf. Wir sind bis sechs Uhr morgens weitergefahren, bevor es gesunken ist“, schildert er. Sein Glück war eine größere Flasche, die er im Meer zu greifen bekam. „Ich bin losgeschwommen, dann habe ich diese Flasche gesehen, habe sie ganz ausgeleert und sie unter meinen Bauch gelegt“. Das habe ihm das Leben gerettet.
Auch der 27-jährige Ahmad Darwish hat überlebt. In dem Moment als das Boot kenterte, herrschte totales Chaos. „Alle sind im gleichen Moment aufgesprungen“, sagt Darwisch. „Ich bin sofort vom Schiff weggeschwommen, weil ich Angst hatte, dass mich jemand in Panik unter Wasser zieht“. Im Wasser begegnete er einem Mädchen, dessen Eltern ertrunken sind. „Ich bekam einen Rettungsring zu greifen und habe das Mädchen zu mir gezogen. Wir haben beide gebetet.“ Das Wort „Gott“ bekomme in einem solchen Moment eine besondere Bedeutung. „Er war der einzige der uns gesehen hat, sonst war niemand da.“ Später wurden die beiden dann doch noch von Fischern gefunden und aus dem Wasser gezogen.
Darwish erzählt auch von den jungen Schleppern. Einer, der auch ertrunken ist, war gerade einmal sieben Jahre alt. Es ist eine übliche Taktik der großen Schlepper, auf den Schiffen vor allem Minderjährige einzusetzen. Denn wenn die Boote von der europäischen Marine aufgebracht werden, kommen sie nicht als Schlepper in italienische Gefängnisse, sondern werden in die Schule gesteckt. Die italienischen Behörden behandeln sie als Opfer der Schlepperbanden. Aber wenn es gut läuft und sie den Weg zurückschaffen, können sie bis zu 500 Euro für eine Tour verdienen.
Für die großen Schlepper und Bootsbesitzer sind das geringe Ausgaben. Sie verdienen an einer Fuhre mit ihren überladenen Kuttern von der ägyptischen Küste nach Italien bis zu 300.000 Euro. „Damit verdienen wir besser als mit dem Drogenhandel“, erklärte einer von ihnen vor einigen Monaten gegenüber der taz bei einem Besuch im Schlepperdorf Borg El-Meghasi.
Das und die Verzweiflung der Flüchtlinge und Migranten ergibt eine Motivation, die sich kaum bremsen lässt. Zwar kommen immer noch die meisten Flüchtlinge über Libyen, auch weil der Weg von Ägypten nach Italien länger und gefährlicher ist. Aber aufgrund des politischen Chaos' in Libyen, wird die ägyptische Passage immer populärer. Kamen letztes Jahr gerade einmal drei Prozent der Flüchtlingsschiffe, die in Italien ankamen, aus Ägypten, so hat sich diese Zahl in den letzten Monaten verdoppelt.
Wenig Chancen in Ägypten
Das liegt sicher auch daran, dass das Leben der afrikanischen und syrischen Flüchtlinge in Ägypten sehr hart ist. Es gibt keinen legalen Zugang zum Arbeitsmarkt und für die Afrikaner und deren Kinder auch keine Zugang zum öffentlichen Bildungssystem. Finanzielle Unterstützung gibt es nur für die beim UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR registierten Flüchtlinge. Ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling erhält gerade einmal 40 Dollar im Monat. Eine alleinerziehende Frau mit vier Kinder erhält gar nichts. Erst ab fünf Kindern gibt es Geld und nur so wenig, dass eine Familie davon nicht leben kann.
Im ägyptischen Fernsehn wurde Usama Ghoneim interviewt, dessen Bruder Muhammad jetzt ertrunken ist. „Muhammad hat einen Vater und sechs Geschwister. Muhammad ist losgefahren und nicht zurückgekommen. Er war nur 15 Jahre alt“, erzählt Usama. Er hatte keine Arbeit, nichts zu tun, keine Perspektive. „Er wollte einen neuen Ort zum Leben für sich und seine Familie finden. Eine Familie, die ärmer ist, als ihr euch das vorstellen könnt.“ Er wäre lieber an seiner Stelle gestorben, fügt er hinzu. „Unser Schicksal ist in Gottes Hand und er wird für Gerechtigkeit sorgen“, wiederholt dreimal gegenüber dem Fernsehmoderator. Beim dritten Mal bricht seine Stimme.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert