Schießbefehl: Birthler-Behörde in der Kritik
Nach der falsch bewerteten DDR-Anweisung zweifeln Politiker von CDU und Linke an der Kompetenz der Birthler-Behörde. Die Justiz prüft indes Ermittlungen.
Eigentlich sollte am Montag an den 46. Jahrestag des Mauerbaus gedacht werden. Stattdessen wurde das Gedenken aber von einem Streit über ein am Wochenende veröffentlichtes Dokument zum Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze überschattet. Die sechsseitige Dienstanweisung einer Spezialeinheit der Stasi, die vor kurzem in der Magdeburger Außenstelle der Stasiaktenbehörde aufgefunden wurde, weist die Mitglieder dieser Einheit an, im Fall von fahnenflüchtigen DDR-Grenzsoldaten von der Waffe "konsequent" Gebrauch zu machen. Wörtlich heißt es in dem Dokument vom 1. Oktober 1973: "Zögern Sie nicht mit der Anwendung der Schusswaffe, auch dann nicht, wenn die Grenzdurchbrüche mit Frauen und Kindern erfolgen, was sich die Verräter schon oft zunutze gemacht haben".
Politiker von CDU und Linkspartei äußerten Kritik an der Chefin der Stasiunterlagenbehörde, Marianne Birthler. Diese hatte das Dokument in einer ersten Reaktion als neuen Fund bezeichnet. Tatsächlich hatte der Potsdamer Zeithistoriker Matthias Judt jedoch schon 1997 in einem von ihm herausgegebenen Sammelband auf die Dienstanweisung hingewiesen. Offenbar war der Band unter Experten nur wenig wahrgenommen worden.
Ein Sprecher des Bundesjustizministeriums verwies in Berlin darauf, dass der Gesamtkomplex der Mauertoten Gegenstand umfangreicher Aufarbeitung durch die Justizbehörden gewesen sei. Ob das neue Dokument aber für individuelle Täter eine Rolle spiele, müssten nun die Staatsanwaltschaften beurteilen. Die Berliner Staatsanwaltschaft befasst sich bereits mit der Anweisung zur Liquidierung. "Die Staatsanwaltschaft prüft, ob dieses Dokument Anlass für weitere Schritte sein könnte", sagte Sprecher Michael Grunwald am Montag auf Anfrage. Geklärt werden müsse, ob das nun aufgetauchte Papier Auswirkungen auf bereits durchgeführte Ermittlungsverfahren habe oder ob gegebenenfalls neue eröffnet werden müssten.
Birthler bedauerte am Montag ihre voreilige Bewertung. Die Tatsache, dass "ein gleichartiges Dokument" bereits vor zehn Jahren in einer wissenschaftlichen Dokumentation veröffentlicht wurde, sei ihr nicht bekannt gewesen, sagte sie der Berliner Zeitung. Das nehme dem "Dokument allerdings nichts von seinem brutalen Inhalt".
Unterstützung erfuhr Birthler vom Leipziger Bürgerrechtler und Leiter der dortigen Stasi-Gedenkstätte "Runde Ecke", Tobias Hollitzer. "Der Gesamtbestand der personenbezogenen Akten, in denen auch dieser Schießbefehl in einer IM-Akte gefunden worden ist, ist bis heute gänzlich - bis auf wenige Ausnahmen - unerschlossen."
Der CDU-Politiker Arnold Vaatz kritisierte die Birthler-Behörde. Das sei "kein Zeugnis einer sehr, sehr guten Arbeitsweise", sagte der Unions-Fraktionsvize in der ARD. Es wäre ihre Aufgabe gewesen, bereits vor zehn Jahren die Brisanz dieser Nachricht zu erkennen und entsprechend zu verbreiten. Bodo Ramelow, Vizefraktionschef der Linkspartei, meinte, er könne nur mit Kopfschütteln registrieren, dass die Behörde der Öffentlichkeit nun selbst längst bekannte Dokumente als vermeintlich sensationelle Geheimakten präsentiere, um ihre Arbeit zu rechtfertigen.
Rückendeckung erhielt die Stasiunterlagenbeauftragte von Bundestagsvizepäsident Wolfgang Thierse und Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit (beide SPD). Er könne der Behörde keinen Vorwurf machen, sagte Thierse. Der Fund zeige, wie wichtig ihre Arbeit sei, und dass das SED-Unrecht "noch nicht ein vergangenes, ein erledigtes Thema ist". Ähnlich äußerte sich Wowereit bei der Gedenkveranstaltung in Berlin.
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