DDR-Mauerschüsse: Neue Weisung für alte Regel

Zum ersten Mal taucht ein Dokument auf, das detailliert belegt, wie brutal die DDR-Führung an der Grenze vorging. Trotzdem handelt es sich nicht um den lang gesuchten Schießbefehl

Saß viereinhalb Jahre wegen der Mauertoten: Der letzte Verwalter des DDR-Regimes Egon Krenz (beim Abschreiten der Ehrenformation zu seiner Ernennung als Staatsratsvorsitzender im Oktober 1989) Bild: dpa

Was bedeutet die jetzt in Magdeburg gefundene Dienstanweisung, die einen Angehörigen der Stasi in der Uniform der Grenztruppen ermächtigte, flüchtende Kameraden - wenn nötig mitsamt ihrer Familie - zu erschießen? Was hat sich geändert an einer möglichen späten Strafverfolgung? Vieles, meint Hubertus Knabe, Leiter des Stasi-Gedächtnisortes Hohenschönhausen. Jetzt sei es möglich, erneut Verfahren wegen Mordes oder Totschlags an der Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten aufzunehmen. Eine voreilige Einschätzung, denn bei der Dienstanweisung handelt es sich gerade nicht um den lang gesuchten allgemeinen Schießbefehl. Aber auch wenn der gefunden würde, änderte dies nichts an dem komplizierten, umstrittenen Weg der Rechtsverfolgung gegenüber den Verantwortlichen für die Toten an der Mauer.

Die Justiz der Bundesrepublik hat sich gerade mit den Tötungsdelikten an der Grenze außerordentlich schwer getan. Die Aburteilung der Täter durch Gerichte einer demokratisch erneuerten DDR schied mit der Vereinigung beider deutscher Staaten im Oktober 1990 aus. Auch wäre sicher zweifelhaft gewesen, ob solche "Revolutionstribunale" den rechtstaatlichen Erfordernissen genügt hätten. Die Gerichte der Bundesrepublik ließen sich bei den Mauerschützen-Prozessen zunächst davon leiten, dass im Prinzip das zum Zeitpunkt der Tat gültige DDR-Recht anzuwenden sei. 1982 hatte die DDR-Volkskammer ein Grenzgesetz verabschiedet. Es sah den Schusswaffengebrauch insbesondere für Flüchtende aus der DDR, also die "Grenzverletzer" in Richtung Westen vor. Außerdem existierten inoffizielle Anweisungen, wann und wie zu schießen sei. Während bei der Ausbildung der Soldaten der gesamte Komplex des Schusswaffengebrauchs an der Grenze absichtsvoll undeutlich blieb, war die "Vergatterung" bei den Grenzsoldaten konkret und eindeutig. Sie ließen sich in der Faustregel zusammenfassen: "Besser der Flüchtling ist tot, als dass die Flucht gelingt."

Die Anwendung von DDR-Recht bei den bundesrepublikanischen Gerichten folgte dem Prinzip des Rückwirkungsverbots, also der Unzulässigkeit, einen Täter auf Grund von Gesetzen zu verurteilen, die zur Tatzeit für ihn nicht galten. Dieses Prinzip hat in der Bundesrepublik Verfassungsrang. Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs und später des Bundesverfassungsgerichts unterlag das Rückwirkungsverbot allerdings einer Einschränkung. Es sollte nicht gelten, wenn der Widerspruch des positiven Gesetzes (also hier des Grenzgesetzes) zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreiche, dass das Gesetz als "unrichtiges Recht" der Gerechtigkeit zu weichen habe. Nach dem demokratisch gesinnten Weimarer Juristen Gustav Radbruch sprach man hier von der "Radbruch-Formel". Sie wurde angewandt, allerdings zeigten die fast durchwegs milden Urteile gegen die Mauerschützen, dass den Gerichten bei dieser Anwendung nicht ganz wohl war.

Für ein weiteres Problem sorgte der Umstand, dass Prozesse gegen die unmittelbaren Schützen an der Mauer zu einem Zeitpunkt liefen, als noch kein einziges Mitglied der SED-Führungsgruppe angeklagt war. Was den Gemeinspruch "Die Kleinen hängt man " zu bestätigen schien. Dabei war es offensichtlich, dass eine Befehlskette vom Politbüro der SED zum Nationalen Verteidigungsrat der DDR, dem Chef der Grenztruppen, zu den Kommandeuren der Grenzregimenter führte, wo die entsprechenden Befehle umgesetzt wurden. In den späteren Prozessen gegen Mitglieder des Politbüros wurde diese Befehlskette überhaupt nicht bestritten. Vielmehr wurde das Grenzregime als unausweichliche Folge der Ost-West-Systemkonfrontation angesehen. Insbesondere Egon Krenz, der letzte Staatsratsvorsitzende, machte geltend, dass die Verhältnisse an der innerdeutschen Grenze das gesamte östliche Militärbündnis, also den "Warschauer Vertrag" angingen und deshalb jede Veränderung der Zustimmung der Bündnispartner, insbesondere der Sowjetunion bedürfe. Eine Darstellung, der sich die Gerichte nicht anschlossen und der auch später von russischen Diplomaten widersprochen wurde. Sodass der zweite Teil des Gemeinspruchs " und die Großen lässt man laufen" sich doch nicht bewahrheitete und dem Rechtsfrieden ein Dienst erwiesen wurde.

Da im Rahmen des Einigungsvertrages festgelegt wurde, dass Mord nicht verjährt, wären theoretisch erneute Ermittlungsverfahren möglich, die den mörderischen Einsatz eingeschleuster Agenten des MfS betreffen. Aber von einer möglichen Rechtspraxis her gesehen hat das jetzt aufgefundene Dokument nur geringe Bedeutung, denn solche Verfahren wären auch nach der Beweislage in den 90er-Jahren möglich gewesen. Anders sehen das natürlich die politischen Kräfte in der Bundesrepublik, die die Exmachthaber des Realsozialismus heute überall in führenden Positionen wähnen und für die der Prozess der Geschichtsrevision zugunsten der SED bereits im vollen Gange ist. Für sie wären solche erneuten Mauerschützen-Prozesse ein Instrument, sich gegen den vorgeblich übermächtigen Druck der "Normalisierung" und des "Vergessens" zur Wehr zu setzen.

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