■ Scheibengericht: Oskar Sala
Subharmonische Mixturen (Erdenklang / in-akustik 70962)
Die Vision, das temperierte System zu überwinden und in die Spalten zwischen den Tönen einzudringen, beflügelte die Phantasien der musikalischen Avantgarde Anfang unseres Jahrhunderts. An der Rundfunkversuchsstelle der Berliner Musikhochschule tüftelte 1930 Ingenieur Friedrich Trautwein zusammen mit dem Komponisten Paul Hindemith an einem elektronischen Klangerzeuger, der anstelle einer Tastatur mit einem Gleitmanual ausgestattet war, womit man Mikrotöne erzeugen konnte. Als Hindemith-Schüler war der damals zwanzigjährige Klavierstudent Oskar Sala in die Erfindung involviert, der später das Trautonium zu seinem Lebensprojekt machte. Da die Vermarktung als „Volkstrautonium“ scheiterte, ist Sala der einzige Vertreter des Instruments geblieben, das er zum Mixturtrautonium mit polyphonen Möglichkeiten weiterentwickelte. In seiner Eremitage, einem kleinen Tonstudio in Berlin-Charlottenburg, brütet der heute 87jährige noch täglich über neuen Kompositionen.
Zwischen 1992 und 1995 sind „Sechs Capricen für Mixturtrautonium Solo“ entstanden, bei denen es sich um Soundgebäude aus unterschiedlichen Baustoffen handelt. Einmal wählt Sala Gleittöne, ein anderes Mal Klangfarbenwechsel oder wasserfallartige Tonkaskaden als Ausgangsmaterial, um in jeweils andere Dimensionen des elektronischen Klangkosmos vorzustoßen. Den historischen Zusammenhang stellt eine Komposition von Paul Hindemith aus dem Jahre 1935 her. Das „Langsame Stück und Rondo für Trautonium“ galt lange Zeit als verschollen. Man nahm an, daß die Partitur auf der Flucht vor den Nazis verlorengegangen war. Nur eine Einspielung auf Kunststoffplatte war erhalten geblieben. Jetzt tauchten bei der Neueinspielung nach mehr als fünfzig Jahren auf einmal wieder Erinnerungen in Kopf und Fingern auf, die dazu beitrugen, das Stück („Für Sala geschrieben“) originalgetreu zu rekonstruieren.
Außerhalb der Neutönerzirkel interessierten sich vor allem Filmregisseure für die neue Klangmaschine, allen voran Alfred Hitchcock. Mit dem Soundtrack zum Thriller „Die Vögel“ gelang Oskar Sala der große Wurf. Sein elektronisch verfremdetes Vogelgezwitscher trug viel zur untergründig- bedrohlichen Atmosphäre bei.
Im Anschluß an Hitchcock hat Sala ein weiteres Mal im Edgar- Wallace-Krimi „Der Würger von Schloß Blackmoor“ (unter anderem mit Karin Dor) sein Talent als Filmkomponist unter Beweis gestellt. Die Handlung bot vielfältige Möglichkeiten für klangmalerische Experimente. Um an den Schatz im Schloß zu gelangen, wo ein Fest mit elektronischer Partymusik gefeiert wird, installiert der Würger ein perfides Mordinstrument in Form eines Drahtseils, das weitschwingend Köpfe abreißt, bis Polizeisirenen ertönen, die den Übeltäter ins Moor treiben, wo er dann kläglich im Morast versinkt. In ihrer Detailschärfe, den überraschenden Soundeffekten und rasanten Schnitten kommt die Musik problemlos ohne Bilder aus. Der Projektor im Kopf schaltet sich von allein ein. Nach dem Tod von Leon Theremin ist Oskar Sala der letzte noch lebende Pionier aus der Frühphase des elektronischen Musikzeitalters. Diese Platte, die einen Zeitraum von mehr als 60 Jahren umspannt, kommt einem Vermächtnis gleich. Wenn Sala stirbt, wird eine Epoche zu Ende gehen.
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