Scheibengericht: Frei Manuel Cardoso/The Bobs/Raphe Malik 5tet/Der Bleiche Mond - Bledi Mesec/Souled American/Myra Melford Trio/Christy Moore/Fritz Hauser

FREI MANUEL CARDOSO

Requiem. The Tallis Scholars (Leitung: Peter Phillips). Gimell CDGIM 021

Ein ferner Klang vom Rand der Welt — das war jahrhundertelang die Musik der Pyrenäenhalbinsel. Weit ab von den musikalischen Zentren im Herzen Europas gingen an der Peripherie die Uhren anders, das heißt: langsamer. In der Regel hinkten die Komponisten aus Portugal dem Tempo der musikalischen Entwicklung in Resteuropa um ein paar Jahrzehnte hinterher. So komponierte Frei Manuel Cardoso (1556-1650), der bedeutendste Komponist der portugiesischen Renaissance, Anfang des 17.Jahrhunderts noch im überholten Palestrina-Stil, während andernorts in Europa sich längst der neue italienische (Barock-) Stil monteverdischer Prägung durchgesetzt hatte. Trotzdem ist Cardosos Musik nicht ohne Reiz — er hat in seiner Enklave zu einem sehr persönlichen Stil gefunden.

Cardoso war ein Mann des Klosters. Zeitlebens war er Mitglied des Lissabonner Karmeliter-Ordens gewesen. Die mönchische Welt des Mittelalters fand in der Messe der Renaissance einen fernen Widerhall. Ein einstimmiger gregorianischer Choralvers bildet jeweils den Ausgangspunkt, aus dem die polyphone Mehrstimmigkeit entsteht. Auf eine instrumentale Begleitung wird gänzlich verzichtet. Die Tallis Scholars sind in jeder Stimme mit zwei Sängern bzw. Sängerinnen besetzt. Das gibt ihrem Gesang beides: sowohl die Wucht eines vollen Chors als auch die Beweglichkeit einer kleinen Solistengruppe. Die langen melodischen Linien, die Cardosos Stil bestimmen, werden unter der Ägide von Peter Phillips durch eine an- und abschwellende Dynamik und die Flüssigkeit der Interpretation schlüssig ineinandergeflochten. So entsteht ein Ensembleklang, der die Extreme zusammenzwingt. Er klingt als Ganzes homogen und kompakt, doch durchlässig und transparent in seinen Teilen. Dabei ist er von einer konzentrierten Ruhe getragen, die den Eindruck tiefer Spiritualität vermittelt. In der geistlichen Musik der Renaissance tritt uns die vergessene europäische Tradition der Meditation und Kontemplation entgegen.

THE BOBS

Sing the Songs of...

T & M-Records/Efa 001

Außer ein bißchen Schlagzeug (auf zwei Titeln) sind Fingerschnippen und Händeklatschen die einzigen instrumentalen Zutaten auf dem Debutalbum der Bobs. Sonst sind auf dieser Platte ebenfalls nur Stimmen zu hören: hohe, tiefe, schrille, schräge, sanfte, dumpfe. Die Bobs sind ein A-capella-Quartett aus San Francisco, das sich seit 1981 dem Gesang pur widmet. Allerdings betreiben sie das unbegleitete Singen in einer neuen Form. Als Material dienen ihnen Klassiker der Popmusik — Paradenummern von Hendrix, den Beatles, Led Zeppelin und den Talking Heads —, die sie durch ihren A-capella-Wolf drehen.

Die Vier begehen nicht den Fehler, sich auf detailgenaue Kopien zu versteifen, sondern nehmen sich die Freiheit der Neuinterpretation. Was dabei herauskommt, sind Coverversionen von besonderer Originalität. Ihre Einzigartigkeit entsteht aus der Schwierigkeit, mit nur vier Stimmen eine ganze Band doubeln zu müssen. Das stellt hohe Anforderungen an das Raffinement der Arrangements und die Stimmkunst der Solisten. Der Mundraum wird zum Syntheziser, mit dem man mit endlichen Mitteln unendliche Effekte erzielen kann — eine echte Wunderbox! Man kann Baßtöne „funky“ knacken lassen, Breaks und Rhythmen von Elektronik- Drums imitieren, mit Harmoniegesang Keyboardakkorde oder Bläsersätze nachahmen, auch jaulen und heulen wie die Gitarre von Jimy Page. Entscheidend ist, daß die Kraft der Nummern erhalten bleibt. Hyperkomplexität bremst den Drive — das wissen die Bobs. So klingt ihre Musik pfiffig, überraschend und ist voller Schwung. Hat jemand ein Instrument vermißt?

RAPHE MALIK 5TET

21st Century Texts. FMB/Helikon CD 43

In den Verteidigungsreden seiner Verfechter verwandelt sich der Free Jazz oft in eine reine Identitätskrücke. Worauf es ankommt, ist die Haltung der Musiker, nicht ihre Musik. Freejazzer machen „keine Kompromisse, weder an das Publikum, noch an Produzenten oder Zeitgeist“, ist im Begleitheft der Platte des Raphe Malik Quintets zu lesen. Also dann: Willkommen auf der Insel der Unbeugsamen im Meer von Korruption und Verrat! Dabei hätte die zeitgenössische freie Improvisationsmusik es verdient, als Musik ernst genommen zu werden.

Denn der Free Jazz von heute ist nicht mehr das Chaos von gestern. Sein ästhetisches Konzept hat sich gewandelt, obwohl die alten Grundsubstanzen immer noch virulent sind: orgiastische Kollektivimprovisationen, kreischende Saxophone, Schlagzeugdonner. Sie finden sich allerdings eingebettet in einen Kontext, der seine Fühler in andere Bereiche ausstreckt. Trompeter Raphe Malik und sein Ensemble beziehen sich ausdrücklich auf die ganze Tradition des schwarzen Jazz von Duke Ellington über Thelonious Monk bis Miles Davis, die sie transzendieren und assoziativ verarbeiten. Cecil Taylor, der Doyen der afro-amerikanischen Freemusic, nimmt dabei eine besondere Stellung ein. Malik kommt aus seiner Schule. In Taylors Gruppen hat er in den siebziger Jahren sein Handwerk gelernt. Allerdings wirken Maliks Improvisationen weniger brachial und egomanisch als die seines Lehrmeisters. Brüchige Linien, verletzte Töne und wundgescheuerte Klänge bestimmen seine „21st Century Texts“. Zeitkommentare?

DER BLEICHE MOND — BLEDI MESEC

Alte instrumentale Volksmusik aus Slowenien. Trikont/Efa US-0182

Aus dem Süden konmmt der Blues. Von der dunklen Seite der Alpen tönen die Melodien des alten Europa zu uns herüber. Was New Orleans und Louisiana für die Musik der USA bedeuteten, war am Südrand Europas Slowenien: ein Schmelztiegel. Durch diese Schnittstelle liefen die Kulturströme — der Balkan vom Osten aus, der Orient aus dem Süden und die mediterrane Welt von Westen her. Die Volksmusiken Sloweniens haben die Einflüsse aufgesogen, umgeformt und wieder weitergegeben. Die „Tamburica“- Orchester des slowenischen Südens, so genannt nach dem mandolinenartigen Zupfinstrument, sind dafür das beste Beispiel. In ihrem Spiel vermischen sich europäische, balkanische und orientalische Elemente. Mit den Türken kam das Saiteninstrument im 14.Jahrhundert in diese Region. Vor dem Spiel cremen sich die Musiker die Hände ein, sowie den Hals ihrer Saiteninstrumente, damit die Finger besser flutschen. Ihr Plektrum schneiden sie aus dem harten Plastik einer Bierkiste — und dann wird losgelegt, in einem Tempo, daß nur so die Fetzen fliegen.

Gemächlicher geht es bei den Zigeunern der Alpen zu. Im Mittelpunkt steht das große Hackbrett, das von Murska Sobota gespielt wird, dessen Familie seit Generationen Musik macht. Sobota (geb. 1920) ist der jüngste in seiner Kapelle, Jozi Kociper, Jahrgang 1905, der älteste. Er spielt den Baß — „Kuh“ genannt. Sein Bruder Janci, geboren 1909, ist auf der Geige zu hören. Janci postiert sich beim „Aufspielen“ zum Tanz immer rechts neben seinem Bruder, um ihm — im Notfall — einen sanften Knuff mit dem Ellbogen geben zu können, wenn er spätnachts beim Musizieren einzuschlafen droht. So sind die Brüder. Die Gruppe spielt Musik für jede Gelegenheit. Drinnen spielen sie „Streich“, draußen spielen sie „Blech“. Dann wird das Hackbrett, die Klarinette, der Baß und die Geige gegen Tuba, Trompete und Horn eingetauscht. Schräge Blasmusik quäkt aus ihren Tröten, im Klang oft ungelenk und grob. Wenn das nicht das europäische Pendant zu den „Marching Bands“ aus New Orleans ist.

Auf einer reich bebilderten und kompetent kommentierten Zusammenstellung alter instrumentaler Volksmusik aus Slowenien hat die Musikethnologin Mira Omerzel- Terlep (Ljubljana) die aufregendsten Beispiele ihrer 1974 begonnenen Sammlung vereinigt. Neben den Alpenzigeunern und dem Tamburica-Orchester enthält diese Kollektion noch andere archaische Sounds: Violin-Zither-Klänge, Schwegelpfeifen und Panflötenspieler, die ihre Instrumente selber bauen, sowie ein Titel für die slowenische Ziehharmonika. Ein Stück wird sogar nur auf einem Efeublatt geblasen. Wenn es stimmt, daß Zukunft Herkunft braucht, ist diese Platte ein wichtiger Beitrag zur Aufhellung der vergessenen und verdrängten oralen Volksmusiktradition des vorindustriellen Europa, wie sie heute nur noch in wenigen Nischen besteht. Daran könnten jüngere anknüpfen.

FRITZ HAUSER

Pensieri Bianchi. Hat Art

CD 6067

Erbarmen! Eine Platte mit reinem Soloschlagzeugspiel ist keine Verheißung, sondern eine Drohung. Kann man da anderes erwarten als ödes Gepolter und endloses Gewirbel? Der Schweizer Schlagzeuger Fritz Hauser macht das genaue Gegenteil. Seine Trommelstöcke sind aus anderem Holz geschnitzt. Der Basler Schlagwerker, der das Trommelspiel wie alle Trommler aus Basel wohl in den einheimischen Fastnachtskapellen gelernt hat, ist ein Anti-Typ zu allen Dampf- und Dumpfdrummern der Welt. Er ist ein Ästhet, der eine Spielweise kultiviert hat, die mit Klängen arbeitet und Trommeln nicht primär als Rhythmusinstrumente einsetzt, sondern sie zum Melodiespiel verwendet. Ihm geht es darum, Stimmungen zu kreieren und Atmosphären zu schaffen. Dazu steht ihm ein riesiges Arsenal an Klöppeln, Schlegeln, Stöcken, (Brush-) Sticks und Besen zur Verfügung. Die setzt der Schweizer Feingeist gezielt und höchst kontrolliert ein. Manchmal läßt er das Metall zischen, dann die Cymbals in Wellenbewegungen an- und abschwellen. Er spielt Melodieteile auf den Fellen und klopft feine Wirbel auf den hölzernen Tempelblocks. Auch reibt er seine Becken, bis sie zu summen beginnen. Subtilität ist seine Stärke. Pausen sind ihm wichtig. Das kleinste Detail hat große Bedeutung. Musik als Askeseübung — zugegeben! Doch wurde von diesen Trommelstücken noch niemand erschlagen.

SOULED AMERICAN

Sonny. Rough Trade R2802

Zeitspiel! Dafür würde es im Fußball die gelbe Karte geben. Kaum etwas passiert. Niemand ist in Eile. Fast nichts bewegt sich. Zäh und langsam ziehen sich die Liedzeilen dahin. Gitarrenklänge werden ausgewalzt. Der Baß scheppert. Worte werden wie Kaugummi endlos im Mund herumgedreht. So klingt die amerikanische Independent-Band Souled American, die Entdecker der musikalischen Langsamkeit. Diese Anti-Helden der Country- Musik spielen Bluegrass in Zeitlupe. Ihr musikalisches Konzept ist nicht am Tempo eines dahinrasenden Trucks orientiert, sondern an einem dösigen Sommertag in der stehenden Mittagshitze irgendwo in der amerikanischen Provinz, wenn nichts mehr geht. Auf ihrer neuesten Platte ist die Gruppe vom Quartett zum Trio geschrumpt. Die Drums wurden von der Besetzungsliste gestrichen. Überflüssig! Zwei Gitarren und ein Elektrobaß — das genügt. Wenige Akkorde bilden das harmonische Gerüst der Songs. Minimalmusik auf Cowboy-Art. Das schafft Platz für einen wehmütigen zweistimmigen Gesang, der so nölig daherkommt, wie sonst nur bei Ziehvater Neil Young. Schräge Gitarrensounds werden eingestreut. Auf einem Lied kommt noch eine Mundharmonika dazu. Das ist dann fast schon zuviel vom reduktionistischen Standpunkt der Band aus betrachtet. „Ich würde nicht sagen, daß wir eine Country-Band sind, aber es steckt natürlich in uns“, sinnieren diese Prärie-Romantiker.

MYRA MELFORD TRIO

Now & Now. Enemy/Efa EMY 131-2

Drei Instrumente sind genug. In der klassischen Trio-Formation haben manche Jazzpianisten ihre besten Momente gehabt. Wenn sich Piano, Baß und Schlagzeug zu einem magischen Dreieck verbinden, fangen die Musikgeister zu tanzen an. Myra Melford ist eine junge Pianistin aus der avantgardistischen Improvisationsszene New Yorks. Insider handeln sie als eine der neuen Hoffnungen des modernen Jazz. Sie hat das Pianotrio als ihr ideales Ausdrucksmedium entdeckt. Es ist klein genug, um nichts Überflüssiges an sich zu haben, aber auch so groß, daß man nichts vermißt. Mit ihren beiden Partnern — Lindsey Horner (Baß) und Reggie Nicholson (Drums) — bildet sie seit 1990 eine feste Formation.

Auf ihrer neuesten Einspielung essen sich die drei durch einen Berg von Tönen und Klängen hindurch, den die Jazzgeschichte der letzten hundert Jahre hinterlassen hat. Blues, Bebop, Free Jazz — alles verleibt man sich ein. Auch bei Thelonious Monk nimmt man Anleihen. Daraus formt sich eine Spielweise, die nicht beliebig zitiert, sondern wie im Zeitraffer die Jazzhistorie organisch aus sich heraus entwickelt. Barrelhouse-Linien verwandeln sich in Swing-Läufe, die sich zu wilden Klangklecksereien steigern. Doch das geschieht immer in kontrollierter Manier. Nie verheddern sich die Instrumentalisten in improvisatorischen Endlosschleifen. Die Balance stimmt. Es wird gleichrangig agiert, niemand drängt sich nach vorne. Alle drei sind hervorragende Solisten, aber auch, was noch schwieriger ist, hervorragende Begleiter.

Reggie Nicholson spielt sein Schlagzeug direkt und ohne Mätzchen. Er agiert kantig genug, daß man sich daran reiben kann, aber auch elastisch genug, um den rhythmischen Fluß zu garantieren. Lindsey Horner vermißt mit seinen tiefen federnden Baßlinien den harmonischen Kellerraum. Und Myra Melford streut Klaviertöne wie Perlen dazwischen — oder wie Reißzwecken, je nachdem.

CHRISTY MOORE

Smoke & Strong Whiskey. Pinorrekk Records CD 5008

Christy Moore ist eine der Schlüsselfiguren der irischen Musikszene. Als Singer/Songwriter besitzt er Ausnahmequalitäten. Anfang der siebziger Jahre formiert er die Folkrock-Band Planxty, in der er musikalisch die Tradition mit der Moderne versöhnt. 1975 macht er sich selbständig und geht eigene Wege. Üblicherweise ist er solo, nur mit Gitarre zugange. Was ihn allerdings von anderen Folksängern unterscheidet, ist sein ungeheures Charisma. Er ist kein Liedermacher von spießiger Biederkeit, sondern ein Magier, der mit Songs die Leute in seinen Bann schlägt. Die größte Wirkung entfaltet er „live“. Aus diesem Grund sind Platten von ihm eine heikle Sache. Oft sind sie nur ein schwacher Abklatsch seiner Konzertauftritte, so auch seine aktuelle Einspielung.

Obwohl die Arrangements dezent gestaltet sind und die Instrumentierung mit Akkordeon, Orgel, Banjo und Saxophon geschmackvoll ausgewählt ist, entfalten seine Lieder nicht ihre tatsächliche Wirkung. Sie schaffen es nicht, vom Boden abzuheben. Studioproduktionen verkaufen Christy Moore unter Wert. Trotzdem bleiben ein paar starke Melodien im Ohr hängen. Der Titelsong etwa oder das von den Pogues geborgte „Fairytale of New York“ — eine bewegende Hymne, die die Liebe blutrot zeichnet und die Hoffnung giftgrün.