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Schaukelpolitik statt Machtkampf

„Nun gilt es, die Autorität des Staates und der KP wiederherzustellen, das ganze Land muß die Autorität der KP und der Regierung respektieren, und das heißt, ihren Befehlen gehorchen.“ So sprach Ministerpräsident Li Peng auf dem Nationalen Volkskongreß. Einige Jahre der Sparsamkeit und der enger geschnallten Gürtel stünden bevor.

Töne, die wir von zahllosen Kongressen proletarischer und anderer Diktaturen kennen. Ebenso vertraut der kontrapunktische Refrain: Natürlich werde man den Weg der Reformen nicht aufgeben. Im Gegenteil, die Maßnahmen zur Festigung der staatlichen Zentralgewalt, der Planwirtschaft und der Herrschaft der Partei dienten keinem anderen Zweck als eben der Weiterführung der Reformen.

Heißt das nicht, die Fahne der Reform wird geschwungen, um sie möglichst weit weg zu schleudern? Man braucht nur noch dazuzusagen, daß Li Peng in der ersten Hälfte der 50er Jahre in Moskau Elektrotechnik studiert hat, und schon hat man das fertige Bild einer stalinistischen Gegenreform. Chinas Reform am Ende? Ergreifen die Betonköpfe wieder die Macht, weil die Reformer die wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht lösen können?

Nach diesem Schema interpretieren wir die Entwicklungen in Osteuropa, aber von China gibt es ein schiefes Bild. Eigentlich haben die „Betonköpfe“ dort die Macht nie aus der Hand gegeben. Dennoch ist es nicht gelogen, wenn sie behaupten, sie wollten die Reform weiterführen.

Westliche Raster

Das Bild von den Machtkämpfen zwischen den Reformern und Konservativen in der chinesischen Führung stammt aus den Seh - und Darstellungsgewohnheiten westlicher Politologen und Journalisten, die politische Widersprüche nur als Machtkämpfe zwischen Personen und den von ihnen verkörperten Ideologien sehen können. Das erleichtert schließlich die Einordnung in vertraute westliche Raster. Rechts haut links, weiß haut schwarz oder umgekehrt. Teng Hsiao-ping dagegen hat bekanntlich gesagt, ihm sei es gleichgültig, ob die Katze schwarz oder weiß sei, Hauptsache, sie fange Mäuse.

Seitdem ist er bei den Anhängern des wahren Glaubens auf ewig des Opportunismus schuldig. Aber auch die liberalen Gemüter aller Schattierungen, die ihn gerne als einen der Ihren reklamieren, beklagen das Fehlen langfristiger, ausgereifter Reformstrategien, mit denen die schreienden Ungleichheiten und Krisenerscheinungen zu vermeiden wären, die Chinas Wirtschaftsreform begleiten.

Die Vorstellung ist naiv. Auch in entwickelten Ländern schafft ja bekanntlich jede Reform mindestens so viele Probleme wie sie löst. Die Reformer um Teng Hsiao-ping sind konservative Beamte, die erst dann mit einem Putsch die Macht ergriffen und Reformen einleiteten, als nichts mehr ging, als Maos Elendssozialismus, die Barfußindustrialisierung und der dogmatische Eifer die Wirtschaft und mit ihr das politische System in Chaos und Untergang zu reißen drohte.

Die Klugheit dieser Gruppe älterer Machtpolitiker ist gerade ihr Pragmatismus. Mit den Reformen seit Beginn der 80er Jahre wurden zunächst die erkennbaren Ursachen für Stagnation und internationale Schwäche beseitigt, die übermäßige staatliche Gängelung der Produktion und der Produzenten vor allem auf dem Lande und Chinas Abschottung nach außen. Seitdem versuchen sie, dem Druck der brodelnden Widersprüche in der chinesischen Gesellschaft durch schrittweise Reformen Herr zu werden - immer bereit, auch gewaltsam zu drosseln, wenn die freigesetzten Kräfte die Stabilität des Systems auch nur ansatzweise in Frage stellen.

Regelmäßig alle zwei bis drei Jahre wurden im letzten Jahrzehnt deshalb den Reformen Zügel angelegt. Die westliche Öffentlichkeit hat diese Kampagnen „gegen geistige Verschmutzung“ oder gegen „bürgerliche Liberalisierung“ im allgemeinen als konservative Gegenangriffe gegen die Reform fehlinterpretiert. Sie verkennt, daß die Sicherung der Macht der eigentliche Zweck der Reformen ist und die polizeistaatliche Peitsche deshalb ebenso dazu gehört wie die immer noch eng kontrollierte Öffnung nach außen.

Im Sommer und Herbst 1988 führten die negativen Begleiterscheinungen des überhitzten Wachstums einiger Wirtschaftssektoren und Regionen erneut zur Krise: Inflation, klaffende Einkommensunterschiede, Zusammenbruch der Versorgung mit Energie, Transportmitteln und wichtigen Gütern. Die Staats- und Parteiführung reagierte mit erneuter Zentralisierung der Entscheidungsbefugnisse und einer Verschärfung der politischen Kontrolle.

Übergangsprobleme

Die Ursachen dieser Krise sind leicht einzusehen. Sie geht nicht so sehr auf einen Mangel an Konzeptionen zurück, vielmehr ist sie das kaum zu vermeidende Resultat einer Übergangsperiode in einer unterentwickelten Gesellschaft. Die alten Mechanismen staatlicher Planung und Kontrolle der Wirtschaft sind geschwächt, die Entscheidungen sind weitgehend dezentralisiert und werden von regionalen und örtlichen Bürokratien ohne Rücksicht auf gesamtstaatliche Interessen wahrgenommen. Es gibt noch keinen ausgebildeten nationalen Markt, den die Regierung mit ihrer Wirtschafts und Geldpolitik wirksam beeinflussen könnte. Dafür existiert eine ausgedehnte Schattenwirtschaft, die Versorgungslücken, Transportschwierigkeiten und Devisenmangel spekulativ nutzt. Vor allem auch regionale staatliche Stellen beteiligen sich an der Spekulation und beschleunigen damit den Geldumlauf und verschärfen die Versorgungsengpässe, bis die Zentralregierung mit drastischen Maßnahmen die Entscheidungsbefugnisse wieder an sich zieht, die sie gerade im Zuge der Reform delegiert hat. So das wiederkehrende Muster.

Man darf gespannt sein, ob und wie lange die alten Männer in Beijing den Deckel noch auf dem Topf halten können, wie lange sie die Ansprüche und „Befehle“ der zentralen Wirtschaftsplanung auch gegen die sich rasch entwickelnden Regionen in Ost- und Südchina durchsetzen können. Hier liegen die Keime für wirkliche Fraktionskämpfe innerhalb des Partei- und Staatsapparates. Nicht zwischen Reformern und Konservativen, sondern zwischen den Vertretern der wohlhabenden Küstenprovinzen und denen der zurückgebliebenen Regionen im Westen und Norden.

Jochen Noth

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