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SchaubühneAlbtraum im Abteil

Der Verdruss mit den Stuttgarter S-Bahnlinien ist für viele ein täglicher Begleiter. Doch das Grauen lässt sich noch steigern: In „Schrecken der S1“, dem zweiten Band seiner Horror-Comic-Reihe, schickt Lukas Hepp drei Fahrgäste in einen nicht enden wollenden Pendler-Albtraum.

Stuttgarter Schocker #2: Schrecken der S1.“ Bild: Lukas Hepp/Bryan Shickley

Von Oliver Stenzel

Bekäme jemand versehentlich Zugang zu den internen Messenger-Chats der Kontext-Redaktion, könnte er jede Menge Nachrichten mit Bezug zur S-Bahn-Linie S 1 leaken: „S-Bahn steht still. Oberleitungsschaden“ – „Ich komme zu spät wegen S-Bahn-Chaos“ – „S1 fällt schon wieder aus“ – „Keine Bahn, Schienenersatzverkehr voll, dauert noch“ „S-Bahn-Stau vor Cannstatt“. Nur eine kleine Auswahl.

Unter den von dauernden Störungen und Sperrungen geplagten S-Bahnlinien des Verkehrsverbunds Stuttgart (VVS) ist die S1 zwischen Kirchheim/Teck und Herrenberg wohl die berüchtigtste. Und nun soll es auf ihr vom 10. April bis zum 26. Juli wegen „Instandhaltungsarbeiten“ auch noch „zeitweise zu umfangreichen Fahrplaneinschränkungen“ kommen, so die Bahn.

Das alles erscheint manchen schon schlimm genug. Was aber, wenn man dazu verdammt wäre, nie mehr aus der Bahn rauszukommen? Wenn man tagein, tagaus immer wieder die gleiche Strecke fahren würde, ohne je anzukommen oder aussteigen zu können? Drei einander unbekannte Menschen teilen dieses Schicksal im zweiten Band der Comic-Reihe „Stuttgarter Schocker“, der Titel passend „Schrecken der S1“. Die drei finden sich mit erheblichen Erinnerungslücken in der S-Bahn nach Kirchheim/Teck wieder. Doch statt einer Endhaltestelle wartet auf sie ein Grauen, das nicht enden will. Nur ein böser Traum?

Reale Erfahrungen als Inspiration

Das Szenario ist, Sie ahnen es, von der Realität inspiriert. „Ich hab‘ sehr viele Erfahrungen mit der S-Bahn“, sagt Lukas Hepp, Autor des Bandes und Herausgeber der Reihe. Die Geschichte „ist natürlich eine Allegorie für Verspätungen“. Stilistisch liegen die Inspirationen etwas weiter in der Vergangenheit: Da ist eine Vorliebe erkennbar für Horror-Comics der 1950er-Jahre wie die US-Reihe „Tales from the Crypt“ (deutsch „Geschichten aus der Gruft“), die auch eine Blaupause waren für grob ähnliche deutsche Formate wie die „Gespenstergeschichten“ des Bastei-Verlages.

Auf die Idee mit der eigenen Comic-Reihe kam Hepp eher durch Zufall. Der Esslinger hatte zwar schon als Kind und Jugendlicher Comics nicht nur gerne gelesen, sondern auch selbst gezeichnet, zu einer eigenen Veröffentlichung kam es bis zum „Stuttgarter Schocker“ aber nie. Der 32-jährige ist ein Virtuose der Mediengestaltung, mit seiner Anfang 2019 gegründeten Agentur „Rough Cuts“ macht er Social-Media-Marketing, Videografie und Fotografie.

Nebenbei macht er seit 14 Jahren auch Musik unter dem Künstlernamen „Heppy“, mit einem sehr eigenen Genre-Mix: Er kombiniert Deutschrap mit in den 1950er- und 60er-Jahren populäre Stilen wie Rock‘n‘Roll, Mambo, Surfrock oder Rockabilly. Für Musikvideo-Animationen oder die Cover-Gestaltung seines 2022 veröffentlichten Album „Atom Punk“ suchte er nach Comickünstler:innen, die den passendem Stil dazu im Repertoire haben. Übers Internet fand er zwei: den US-Zeichner Bryan Shickley aus Seattle und Ghostly aus dem brasilianischen Belém. Und während der Zusammenarbeit entstand die Idee, gemeinsam einen Comic zu machen. Im Stile der Epoche, aus der Hepp auch seine musikalischen Einflüsse zieht.

„Ich war immer ein Fan der Horror-Comics aus den 50er- und 60er-Jahren, vor allem denen des US-Verlags EC Comics“, erzählt Hepp. Jener machte damals nicht nur mit „Tales from the Crypt“ Furore, sondern auch mit diversen anderen Reihen aus Bereichen.

Horror mit Lokalkolorit

Das Prinzip der Horror-Comics war dabei fast immer ähnlich: ein bis zwei abgeschlossene Kurzgeschichten pro Band, mit einem lakonischen Ton und meist einem bösen, zumindest aber offenen oder überraschenden Ende für die Protagonisten – jedenfalls keinem klassischen Höhepunkt.

Das Prinzip greift er auch für die „Stuttgarter Schocker“ auf – und vermengt es mit Lokalkolorit. Schon der Titel des ersten, an Halloween 2024 erschienenen Bands „Das Monster aus der Fritty Bar“ greift jenen Kult-Imbiss am Hirschbuckel in der Stuttgarter Innenstadt auf, der seit Mitte 2022 geschlossen ist und den noch heute viele schmerzlich vermissen. In der Titelgeschichte birgt er ein düsteres Geheimnis, in seinem Inneren haust eine uralte Kreatur mit großem Hunger auf Menschenfleisch. Die zweite Geschichte des Bandes, „Verhexte Kehrwoche“, bezieht sich zwar auf den ersten Blick auf eine, nun ja, ambivalent bewertete alte schwäbische Tradition, dreht sich aber eigentlich mehr um einen etwas neueren Stuttgarter Brauch: Den unverschämten Mietwucher – der hier auch noch dämonische Hintergründe hat.

Dazu im neuen, Anfang April erschienenen Band die Seitenhiebe auf die Mängel der Bahn – wird hier, Gesellschaftskritik im Gruselgewand geübt? Das wäre übertrieben, „die Comics sollen vor allem unterhalten“, meint Hepp, aber ein paar satirische Elemente lasse er schon gerne einfließen.

Das Konzept kommt auf jeden Fall an. Vom ersten Band habe er 1.500 bis 2.000 Stück verkauft, online und in diversen Stuttgarter Läden, beim zweiten geht er gleich mit einer Auflage von 1.000 Exemplaren an den Start. Die Werbung für die Hefte funktioniere gut über Social Media, sagt Hepp, und natürlich über den Stuttgart-Bezug. „Ein Horror-Comic ohne diesen Bezug wäre wohl nicht gut gelaufen“, sagt Hepp.

Selbst wenn die Hefte mit diesem Konzept auch für eine Leserschaft kompatibel sein sollen, die nicht besonders comic-affin ist – den Bänden merkt man schon eine nerdige Freude am Genre an: Vom realistischen Zeichenstil mit sehr expressiver Kolorierung über die trockenen, unheilschwangeren Erzähltexte bis hin zur Seitenanmutung: Schon in der digitalen Fassung haben die freien Randflächen jene bräunliche Marmorierung, die manche vielleicht noch vom billigen Papier der Kiosk-Groschenhefte von Bastei-Lübbe und Co. kennen.

Eine Liebhaberei, die Hepp mit seinen beiden Zeichnern teilt. Warum hat er eigentlich, wenn er schon als Kind gezeichnet hat, für die Comics nur Handlung und Texte entworfen? „Ganz einfach, weil ich als Zeichner nicht so gut bin“, sagt Hepp. Und übers Internet sei es heute ja einfach, Zeichner:innen zu finden, die genau den gewünschten Stil draufhaben – mögen die auch am anderen Ende der Welt wohnen.

Von Stuttgart bis zu Bryan Shickley nach Seattle sind es Luftlinie rund 8.300 Kilometer, bis zu Ghostly ins brasilianische Belém rund 7.800 Kilometer. Die Kommunikation der drei läuft komplett online. „Das macht den Workflow manchmal etwas kompliziert“, sagt Hepp, habe bis jetzt aber trotzdem gut funktioniert.

Wobei es beim zweiten, von Shickley gezeichneten Band eine besondere Herausforderung gab: Das Innere der S-Bahn-Wagen so hinbekommen, dass auch die Perspektive noch stimmt. „Ich habe viele Fotos gemacht und ihm geschickt“, sagt Hepp. In der Endfassung fällt nicht auf, dass Shickley vermutlich noch nie eine S1 betreten hat.

Bild: Lukas Hepp/Bryan Shickley

Sogar die Bahn verloste das Heft

Die genreprägende Reihe „Tales from the Crypt“ hatte in den 1950er-Jahren für den EC-Verlag übrigens nicht nur positive Folgen: Ihre düsteren Themen und mitunter sehr expliziten Darstellungen riefen in manchen Kreisen Empörung hervor und die Tugendwächter auf den Plan. Es gab sogar öffentliche Verbrennungen von Comic-Heften. Und sie führten damit indirekt zum „Comics Code“, einem inhaltlich sehr restriktiven Vorschriftenkatalog, mit dem die Comicindustrie staatlicher Zensur zuvorkommen wollte und sich selbst Darstellungen, die als gewalt- oder verbrechensverherrlichend gedeutet werden könnten, untersagte. Viele Verlage gingen pleite, EC selbst überlebte nur, weil es das Satire-Magazin „Mad“ auf den Markt brachte. So etwas ist heute wohl eher nicht zu befürchten. Hepp kontaktierte trotzdem vorsichtshalber die Deutsche Bahn und schilderte ihr sein Konzept, um nicht ungeahnte juristische Schwierigkeiten zu bekommen. Die Bahn hatte kein Problem. „Sie hat sogar eine Verlosung des Bandes über ihren Social-Media-Account gemacht“, sagt Hepp.

Wie geht‘s weiter? Der dritte Schocker steckt schon in den Startlöchern. An für Horrorgeschichten inspirierenden Orten gibt es ja in Stuttgart keinen Mangel, aber Lukas Hepp will nicht viel verraten. Nur, dass es auch in den

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