Saure Meere töten Austern: Das Problem mit der Säure
Ein ungewöhnlich niedriger pH-Wert im Meerwasser macht den Austern in Oregon das Wachstum schwer. Schuld daran ist der Klimawandel.
Die drei Austern in Sue Cudds Händen sehen aus wie Steine. Zwei Jahre lang sind sie im Pazifik gereift und nun groß wie Fäuste. Cudd trägt die drei Crassostrea gigas zu einem Holztisch. Stellt sich in ihren Gummistiefeln in Grätschposition davor. Krempelt die Ärmel bis zu den Ellenbogen hoch. Öffnet die Muscheln vorsichtig mit einem Messer und holt einen zähflüssigen weißlichen Inhalt heraus, den sie mit Samen aus männlichen Austern mischt. „Wenn wir diese Arbeit richtig machen“, sagt sie, „werden das 300 Millionen Austernlarven.“
Sue Cudd ist die Besitzerin der Whiskey Creek Fish Hatchery, Ende der 1970er war sie in das Unternehmen in Tillamook im Nordwesten von Oregon eingestiegen. Heute produziert es jedes Jahr zehn Milliarden Austernlarven. In den ersten drei Wochen ihres Lebens wachsen die Larven in großen runden Wasserbecken, in denen auf 25 Grad erwärmtes Wasser aus dem Pazifik blubbert, bis auf Haarbreite heran. Anschließend werden sie an Austernzüchter längs der Küste verkauft. Sind die Austern erst einmal aus dem Gröbsten raus, können sie im Pazifik leben.
Die Crassostrea gigas, auch Pazifische Felsenauster genannt, stammt ursprünglich aus wärmeren Gewässern in Japan. Aber Züchter an den US-amerikanischen und europäischen Küsten haben sie zur weltweit am weitesten verbreiteten Zuchtauster gemacht. Die Gründe sind ökonomisch: Die Zucht ist unkompliziert, die Auster wächst schnell, sie wird sehr groß, sie ist resistent gegen zahlreiche Krankheiten. Und sie ist geschmacklich so mild, dass sie sich auch an das große Publikum verkaufen lässt. Der Weltmarktanteil der Crassostrea gigas liegt bei über 90 Prozent.
Ursprünglich war die Pazifikküste Nordamerikas das Zuhause einer anderen Auster. Die Ostrea lurida, „Olympia“ in der Umgangssprache, war jahrtausendelang Teil der Grundnahrung der Ureinwohner und gelangte – in getrockneter Form – als Tauschobjekt bis in weit entfernte Gegenden der heutigen USA. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fiel sie dem Goldrausch und der Industrialisierung zum Opfer. Binnen weniger Jahre wurden ihre natürlichen Vorkommen so radikal übererntet, dass fast nichts übrig blieb.
Schuld ist der Klimawandel
Das Schicksal, von heute auf morgen von der Küste vor Tillamook zu verschwinden, drohte auch der Crassostrea gigas. Es hat mit dem Klimawandel zu tun, der an dieser Stelle bis in die Tiefen des Pazifiks wirkt. Im Jahr 2006 gehörten Cudds Austernlarven zu den ersten Opfern.
Damals beobachtete die Austernbrüterin unter dem Mikroskop, wie die Zellteilung, die gewöhnlich 20 bis 30 Minuten nach der Befruchtung einsetzt, langsamer wurde und oft ganz ausblieb. Larven, die dennoch zustande kamen, schafften es nicht, die nötigen ersten kreisrunden Schalen zu bilden. Die mikroskopisch kleinen Tiere verbrauchten all ihre Kraft, um Schalen zu bilden, die nur halbkreisförmig waren. Anschließend starben sie.
Um die Verluste auszugleichen, vergrößerte Sue Cudd ihre Produktion. Doch das Resultat blieb dasselbe: Die Larven schafften es nicht. Die Liste der bekannten Austernkrankheiten lieferte keine Erklärung für das Austernlarvensterben. Im Jahr 2007 war Cudd kurz davor, die Whiskey Creek Fish Hatchery zu schließen. In einem letzten Anlauf suchten sie und ihr Manager Alan Barton Rat bei der Hochschule für Erd-, Meeres- und Atmosphärenwissenschaften der Oregon State University.
Die Forscher fanden heraus, woran es lag: Das Pazifikwasser, in dem die Larven in der Hatchery wachsen, ist übersäuert. Statt die Larven zu stärken, zerstört es sie.
Der Auftrieb aus der Tiefe des Pazifiks bringt „altes Wasser“ an die Küste. So viel ist schon lange bekannt. Neu ist, dass die Chemie sich geändert hat. Das „alte Wasser“ – das so heißt, weil es Jahrzehnte am Meeresboden bleibt, bevor es in Küstennähe aufgetrieben wird – hat einen unnatürlich niedrigen pH-Wert. Das ist ein Resultat der Absorption des Treibhausgases Kohlendioxid im Pazifik. Von dem Gas, das mit der Nutzung von fossilen Brennstoffen verstärkt in die Atmosphäre gelangt, gehen 30 Prozent in die Ozeane. Das Besondere in Tillamook ist, dass das „alte Wasser“ fünfzig Jahre in der Tiefe war.
„Wir erhalten ein Paket, das wir uns selbst vor einem halben Jahrhundert geschickt haben“, erklärt George Waldbusser von der Oregon State University in Corvallis, drei Autostunden weiter südlich. Der Meeresbiologe und Professor ist auf die Ökologie des Ozeanbodens spezialisiert. Nach seinen Untersuchungen geht das übersäuerte Wasser von Tillamook heute auf CO2 zurück, das in den frühen 1970er Jahren in den Ozean gelangt ist.
Meerwasser mit Natriumcarbonat anreichern
Für die Whiskey Creek Fish Hatchery fanden die Forscher Lösungen, die das Überleben des Betriebs garantieren: Sue Cudd und Alan Barton müssen das Meerwasser mit Natriumkarbonat und Sauerstoff anreichern, bevor sie es erwärmen und ihre Larven darin aussetzen. Die beiden haben zusätzliche Filter und Geräte installiert. Über eine Direktverbindung zur Universität lassen sie täglich die Wasserqualität analysieren und die nötige Menge an Beigaben bestimmen.
Aber für die Zukunft der Muscheln – und anderer Lebewesen – verheißt die Übersäuerung des Pazifiks nichts Gutes. Selbst falls es zu einer radikalen Wende in der Klimapolitik kommen sollte, lauert noch fünfzig weitere Jahre lang übersäuertes Meerwasser im Pazifik. „Im besten Fall bleibt es so schlecht, wie es jetzt ist“, sagt Waldbusser, „aber es könnte auch schlimmer werden.“
Unterdessen kündigt sich ein Comeback der totgesagten Olympia an. Weil Austern täglich bis zu 200 Liter Wasser filtern, weil sie den Meeresboden in Küstennähe befestigen und Erosion verhindern können und weil sie ein Habitat für andere Meerestiere bieten, werden sie an mehreren Orten gezüchtet und neu angesiedelt. Dabei zeigt sich, so Waldbusser, dass die Olympia „unglaublich robust gegen die Meeresübersäuerung ist“. Auch in der Netarts Bay direkt vor der Whiskey Creek Fish Hatchery, wo seit Jahrzehnten keine Olympia mehr gesehen wurde, wollen Naturschützer sie wieder ansiedeln.
Olympias sind unscheinbare Austern. Sie sind nicht einmal halb so groß wie die Crassostrea gigas. Und sie produzieren nicht annähernd so viele Eier.
In Foodblogs und Foodmagazinen werden sie bereits bejubelt. Eine ursprüngliche Westküstenauster passt gut zum aktuellen Local-Food-Trend. Auch ihr strenger und metallischer Eigengeschmack wird von manchen gelobt. Rowan Jacobsen, Autor des Buches „The Essential Oyster“, vergleicht ihn mit einer Bloody Mary. Der Meeresbiologe Waldbusser nennt ihn besonders authentisch.
Sue Cudd und Alan Barton freuen sich, wenn die Olympiaaustern in ihre Bucht zurückkommen. Aber sie glauben nicht, dass es lohnt, sie zu züchten. „Sie brauchen fast dreimal so lang, bis sie ausgewachsen sind, mindestens fünf Jahre“, sagt Sue Cudd. In der Zeit hat ihre Hatchery Milliarden Larven der Crassostrea gigas produziert.
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