Sanssouci: Vorschlag
■ Scorn im Huxley's Jr.
Mitte der achtziger Jahre war die crossovernde Gemeinde daran gegangen, die Geschwindigkeit zum Lebenselexier zu erklären. Zum Ende des Jahrzehnts wurden dann schließlich Napalm Death, nachdem sie die Initialzündung für die englische Core-Szene verursacht hatten, für immer und ewig zu den Gewinnern des Wettbewerbs erklärt, und weltweit wandten sich die Langhaarigen — von einigen Ausnahmen abgesehen — interessanteren Fisimatenten zu. Auch ohne diesen hart erarbeiteten Titel hätten Napalm Death ihren Platz in der Musikgeschichte sicher, denn bereits 1987, als ihre erste LP »Scum« erschien, bestand die Band aus völlig anderen Musikern als zur Gründungszeit um 82 herum.
»Scum« wird von den Fanatikern gerne in zwei Hälften geteilt, weil die erste Seite mit einer anderen Besetzung eingespielt wurde als die zweite. Diese erste gilt mithin als Geburtsstunde des Grindcore, später landete man dann beim Trash-Metal oder machte auch schon mal Death. Napalm Death gibt es immer noch, aber die Besetzung dürfte inzwischen mindestens viermal komplett gewechselt haben, und all diese ehemaligen Napalm- Death-Mitglieder machten dann wiederum eigene Bands auf. Komischerweise gab es noch nie Streit um den Namen.
Warum ich das alles erzähle? Weil die drei von Scorn eben zu jener legendären Besetzung gehörten, die damals diese erste Seite von »Scum« einspielte. Gitarrist Justin Broadwick war zwischenzeitlich bei Head of David und ist immer noch bei Godflesh, die versuchen Death mit Industrial zu verquicken. Sänger/ Bassist Nick Bullen hat unterdessen sein Anglistikstudium abgeschlossen, und Trommler Mick Harris verließ erst letztes Jahr Napalm Death, um Scorn zu gründen.
Auch Scorn geben sich — wie alle anderen — nicht mehr dem Geschwindigkeitsrausch hin, sondern spielen — ganz wie es ihrer Vergangenheit gebührt — die halbe Metalhistorie nach. Sie können zwar noch relativ schnelle, schwer rotierende metallische Schweinereien, aber da schwelgen auch düster die Klaviertöne waberig aus den Boxen. Meistenteils hat man das Gefühl, sie hätten in letzter Zeit zuviel Dub-Reggae gehört und versuchen nun, mit Metal dasselbe zu machen. Dabei kommt ihnen zupaß, daß sich Trommler Harris auch aufs Sampling versteht. Manche Stücke werden einfach immer langsamer und plötzlich entdeckt man, daß Brutalität eine ziemlich schwerfällige Angelegenheit sein kann.
Scorn schreiben keine Songs, eher schön-schaurige Opern, die sich ganz vorzüglich für medizinische Hörtests eignen würden, wenn die Lauscher sich nicht schon vorher kräuseln würden. Für Freunde von neuen Erfahrungen ein unbedingtes Muß. Thomas Winkler
Mit M.C.B. aus Dresden heute um 21 Uhr im Huxley's Jr., Hasenheide 108-114, Kreuzberg
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen