Sanssouci: Nachschlag
■ Salomea Genin las im Cafe Pluspunkt
Die Vergangenheit widersetzt sich der Bemächtigung – einer Bewältigung erst recht. Die vernichtete Welt der Ostjuden, von Roman Vishniac in eindrücklichen Photographien festgehalten, von Isaac Bashevis Singer beschrieben und von Barbra Streisand in „Yentl“ verkitscht, bleibt fremd und fern. Alle Unternehmungen, die diese Distanz verschweigen – und seien es Großveranstaltungen der Ausstellungsindustrie – enden in einem diffusen Bereich zwischen Ethnographie und Folklore. Auch der Abend mit Salomea Genin entging dieser Gefahr nicht und endete in Ratlosigkeit.
Kaum ein Dutzend Zuhörer kam ins Café Pluspunkt, um die Lebenserinnerungen der Autorin zu hören, die sie zwischen 1986 und 1988 verfaßt hat. Genins Familie stammt aus Galizien. Salomea wird 1932 in Berlin geboren. Mit knapper Not entgeht sie im Mai 1939 zusammen mit ihrer Mutter Scheindl der Ermordung und emigriert nach Australien. Bis in die 50er Jahre lebt sie dort und arbeitet für eine jüdische Organisation. 1963 wird ihr Wunsch erfüllt: Sie zieht in die DDR, ein Land, das ihre Hoffnungen auf eine neue Gesellschaft zu erfüllen verspricht.
Ihr im vorigen Jahr erschienenes Buch „Scheindl und Salomea“ ist kein Bericht, sondern ein Versuch, der Welt ihrer Großeltern und Eltern „nachzuspüren“, was immer das heißen mag. Die Schilderungen des Lebens in Lemberg lesen sich wie Fiktionen; es sind Geschichten aus der jüdischen Schule, dem Cheder, aus dem Familien- und Geschäftsalltag der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Kindheitserlebnisse in Berlin beschließen das Buch. Immer wieder sind Passagen eingefügt, in denen die Autorin den Vorgang des Erinnerns reflektiert. Erst eine Psychoanalyse hat Salomea Genin die Angst genommen, ihr Schicksal aufzuschreiben. Doch an Authentizität haben die Erinnerungen durch diese Reflexionen nicht gewonnen. Dieser Eindruck entsteht auch durch die große Ernsthaftigkeit, mit der Genin liest: Seltsam unbeteiligt und distanziert trägt sie ihre Geschichte vor. Das verstärkt noch die Harmlosigkeit eines Textes, in dem jiddische Worte, Sätze und Gebetsfetzen das Lokalkolorit liefern, die traurigen Episoden uns kaum berühren und die Dialoge in gewollter Einfachheit das Kindliche nur vortäuschen. Der Zuhörer (und Leser) bleibt im unklaren: Hat er es mit Memoiren aus einer Kinderstube zu tun, mit dokumentarischen Erzählungen oder mit dem Ergebnis einer Psychoanalyse?
Ratlos lassen einen auch Karsten Troykes Zwischenspiele: Seine jiddischen Lieder zur Gitarre waren als „Chansons“ angekündigt. Traurig sollen sie klingen und sind doch nur sentimental. Sie berühren nur dort, wo Salomea den Kopf wiegt und leise mitsingt. Stephan Schurr
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