Sanssouci: Nachschlag
■ „Lucky Strike Originals“ – Amerika in Berlin im S-Bahn-Bogen
„I could be so lucky, lucky lucky lucky...“ (Kylie Minogue)
Der ahnungslose Passant, der an den S-Bahn-Bögen zwischen Pergamonmuseum und Bahnhof Friedrichstraße entlangschlendert, könnte sie für mißglückte, zu klein geratene Werbeschilder halten: Vier rote Neonkringel werfen spärliches Licht auf Einschußlöcher in der Wand. Die Kringel sagen uns, wie die Bögen 177 bis 180 fortan heißen: „Lucky Strike Originals“. Bloße Zigarettenreklame?
Mitnichten. Die Betreiber des „Diner & Entertainment“-Restaurants liehen sich nicht nur Geld bei einer größeren Zigarettenfirma, sondern auch gleich noch deren Produktnamen. Publicity ist beiden gewiß. Natürlich vor allem durch Journalisten, die prompt auf den Werbetrick reinfallen und fragen: Darf man denn das?
Man soll sogar. Ist es doch viel besser, wenn auf allen Produkten, also auch auf Restaurants, außen draufsteht, wem der Inhalt gehört.
Also rein in die Zigarettenschachtel, die gern ein amerikanisches Restaurant wäre. Denn so was liegt voll im Trend. Am Eingang ein Stehpult, dahinter die Empfangsdame im langen Blauen. Hier heißt es zunächst einmal innehalten, auch wenn kein Schild „Wait to be seatet“ im Weg steht. „Eigentlich alles reserviert, aber wir hätten da noch zwei Plätze, bis halb elf aber leider nur.“
Macht nichts, ist ja erst halb neun. Lang geschwungene, dunkelgrüne durchgehende Ledersofas mit rotem Strich teilen den Restaurantteil von der Bar. Leider auch eine Milchglasscheibe, die das Flirten von der Theke ins Restaurant hinein unterbindet. An der Stirnseite ein dunkelfarbiges Spritzgemälde mit einer hell leuchtenden Eckbar in Sonstwo, USA: der Traum jedes alleinreisenden Amerikabesuchers. Von der Theke über die Tische der sich unterhaltenden Gäste hinweg auf die Straße schauen. Draußen gelbe Taxis, rumpelige Cabs mit turbantragenden Fahrern, die gut Indisch sprechen, aber nicht wissen, wie sie zum Broadway kommen. Hier nun also Amerika in Berlin im S-Bahn-Bogen? Draußen wenig Urbanes, Autos parken Straßenbahnschienen zu.
Probieren wir's mit essen. Obwohl – Fragen über Fragen –, können Amis kochen? Wenn ja, was? Typisch amerikanisches Essen, da fällt einem McDonald's ein, ansonsten ist typisch amerikanisch wohl eher, daß es das nicht gibt. Müßten also Nachos, Tortilla, Sushi und Ukrainisches auf der Karte stehen. Unter der Headline „Let the good times roll“ und „Dinner, 18–24.00“ finden wir dann: Seafood Gumbo Acadienne, our House Speciality – der „Meeresfrüchte-Eintopf mit Reis“: als Vorspeise 11,50, als Hauptgericht 19,50. Die „Lucky People“, wie sich die Betreiber des „Lucky Strike Originals“ nennen – Klaus Spiesberger, ehemaliger Jazzveranstalter und Geschäftsführer des Quasimodo (einer von vier glücklichen S-Bahn-Bögen besitzt denn auch eine Bar mit Bühne), und Kollegen – haben sich dem südamerikanischen Essen verschrieben. Falsch, dem süd-USAischen. New Orleans, French Quarter, Bayou Salad with Bacon Lardons and Warm Goat Cheese, you know? Nur 14 Mark. Echt amimäßig sind die niederen Personalränge besetzt: Chinesen fegen die Ascher aus.
Weiter in der Karte der „Schwein Gehabt Leute GmbH“: Main Dishes. Preisprinzip: kein Essen unter zwanzig, keins über dreißig Märker. Was eß' ich nur? „Big Daddy's Bar-B-Q Spare Ribs – Get Your Hands on our Ribs“ neben simplem T-Bone Steak das zweite 29,50-Gericht. Dummerweise will die geizige taz keine Spesen rausrücken. Für zwei Mark weniger gibt's dafür alles, was die Küche zu bieten hat: Sweep the Kitchen.
Ein geradezu prophetischer Name, wie knapp zwei Stunden später klar wird. Die „Hits“ des Restaurants auf einem einzigen Teller vereint: Jambalaya, Spareribs und frittierte Hühnerknochen. Es vergehen benebelnde drei Fosters (4,50 für 0,3 Liter Aussi-Bier) oder eindreiviertel Stunden, bis unser Totalangriff auf die Küche Erfolg zeigt: Das Essen kommt. Der Kellner ist völlig fertig, er hat sich etwa alle zwanzig Minuten in der Küche umgehört und entschuldigende Worte gemurmelt. Motorradfahrer-Gäste hätten ihm fast wirklich in seine zarten Spare-Rippchen gekniffen, sie warteten fast eine Stunde auf ihren Ice-T.
Eine Dame am Nebentisch läßt ihren Seafood-Teller zurückgehen, weil sie den Verdacht hegt, es sei Fleisch statt Fisch drauf. Nach eingehender Prüfung bringt die Oberkellnerin das Essen aus der Küche zurück: Da ist kein Fleisch drin, Sie können noch mal was Neues bestellen, das dauert dann aber zwei Stunden... Die Frau ißt mit säuerlichem Gesicht weiter.
Meine Spareribs sind ordentlich knochig, aber irgendwie lecker. Das Wichtigste beim Ami-Essen: das Schüsselchen mit Tomaten-Ketchup, die Flaschen bleiben dezent in der Küche, man ist ja kein Imbiß. Auch ein Hand-Schüsselchen mit Zitronenwasser stellt der Kellner großzügig bereit. Erst bei näherem Hinsehen – der durch die Warterei gesteigerte Hunger macht unkritisch – merken wir, daß das servierte Essen sich doch in wesentlichen Teilen von den Angeboten auf der Karte unterscheidet: Beim Southern Fried Chicken meiner Freundin fehlt das Maisbrot, das Kartoffelpüree hat sich in profane Pommes verwandelt. French Fries, or what? Im Hintergrund säuselt der Jazz, über uns rumpeln die Züge, Sehnsucht nach einem Speisewagen kommt aber noch nicht auf.
Ich esse so besinnungslos, daß ich erst am nächsten Tag merke: Ich hatte ja gar keinen Salat. Jetzt begreife ich, völliger Neuling in der Sparte Restaurantkritik, warum einem in Restaurants die Speisekarten immer so schnell nach der Bestellung weggenommen werden. Sie enthalten, wie Fertigessenkartons, nur Serviervorschläge. Und im Grunde ist das ja auch ganz okay und really realistisch: Der American Dream ist eben ein Traum, ein Vorschlag, wie die Welt sein könnte. Andreas Becker
Georgenstraße (gegenüber Pergamonmuseum), Berlin-Mitte
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