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SanssouciVorschlag

■ „Rituale“: Thomas Hartung erzählt Märchen (und wie!) von Katzenohren und anderen Dingen

Leider hat das Märchen ohne pädagogische Absicht bei uns nicht die gleiche Tradition wie etwa in Frankreich, wo das Genre für Erwachsene schon früh zur Qualität eines „Barbe Bleue“ reifte. Der Wahlberliner, Autor und Erzähler Thomas Hartung erweckt diese drastische Volkskunst zu neuem Leben. Er schreit sie heraus, flüstert sie in sich hinein, ja bestaunt die Wünsche und Träume seiner Protagonisten des Alltags und beschreibt akribisch die bei Nichterfüllung drohende selbstzerstörerische bis mörderische Konsequenz. Ein mißtrauischer Blick („Seine Augen lauerten so, ... so wie eine Schnecke, auf einer kalten Schleimspur kroch das Mißtrauen aus ihnen hervor“) friert das seltene Glücksgefühl ein, weckt die Angst und gerät schließlich zum Totschlagsmotiv. Prosaischer als und nicht so lapidar wie Max Goldt, aber oft genauso surreal und mit ähnlich schwarzem Humor begabt, kündet auch Hartung vom süßen, faszinierenden Selbstbetrug, der das Auseinanderklaffen von Phantasie und Realität halbwegs erträglich scheinen läßt.

Einfühlsam begleitet von Cello, Kontrabaß und E-Gitarre oder auch dem Chor der MusikerInnen, erzählt er die Mär vom Mann mit dem Käsebrot oder einer neuen Methode, die Welt zu retten (die vom Publikum später als Zugabe gefordert wird), oder die Mär von Katzenohren und weißen Mäusen – dem immer wieder gewagten Versuch, das Delirium tremens in der Kneipe zu heilen. Geschichten, in denen die Angst vor der Angst, die Angst vor dem Tod und selbst die Angst vor den Fremden noch brüchige Beziehungen stiftet, die gerade so lange halten, wie sich das Feindbild in Sichtweite befindet.

„Rituale“ setzt Hartung phantasievoll der Angst entgegen, Rituale, die sich auch mal in Ersatzhandlungen verkehren können, wenn die Beschwörung mißlingt, die Brücke plötzlich zu schmal wird für den Phantasietransfer, die Kreativität sich davonschleicht, wie Hartung es im gleichnamigen Titelstück trefflich demonstriert. „Das Ritual“ entpuppt sich als ein Pyrrhussieg der Angst, im Kanon der elf originellen Märchen, in denen sich Pathos und Posse so seltsam verbinden. Peter Thomé

Vorstellungen von „Rituale“: Heute und am 17.6., jeweils um 20 Uhr, im Theater Miraculum, Brunnenstraße 35, Mitte.

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