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SanssouciNachschlag

■ Group Motation Dance Company zeigte "Surge" im Tacheles

Die Straßenbahn, die kurz nach 21 Uhr von der Friedrichstraße in die Oranienburger abbiegt, ist in diesen Tagen zu einem außerplanmäßigen Halt gezwungen. Auf den Gleisen vor dem Tacheles tanzen Frauen in grauen Anzügen, umringt von einer stetig anwachsenden Menschenmenge. Die Tänzerinnen der „Group Motation Dance Company“ aus Philadelphia ziehen TheaterbesucherInnen ebenso wie zufällig Verweilende gleichermaßen in einen Bann. Wie schon in früheren Produktionen wird das Publikum durch die Toreinfahrt und über eine Treppe in den Theatersaal des Tacheles gelockt. Dort beginnt „Surge“ – die Brandung – mit einer Reise durch das Labyrinth des Inneren.

Der Prolog des Choreographen Manfred Fischbeck eröffnet die trostlose Perspektive dieser Reise: „The darkness eats my questions. The darkness eats my answers.“ Dunkel und geheimnisvoll, trübe und ungewiß ist dann auch die Innenschau, die von der Company tänzerisch dargestellt wird. Vordergründig führen die Stationen der Reise durch die anatomischen Innereien des Menschen: von Milz, Magen, Herz und Kehle zum „dritten Auge“ und zum Scheitel. Dahinter stehen, den einzelnen Organen symbolisch zugeordnet, existentielle Grunderfahrungen wie Geburt und Einsamkeit, Sexualität und Kommunikation. Gezeigt wird der Mensch als Kreatur, als planlos in die Welt geworfenes Individuum.

Archaisch und finster, animalisch und kraftvoll sind die einzelnen Tänze dieses Zyklus, in denen der Mensch mehr ein Natur- als ein gesellschaftliches Wesen zu sein scheint. Mit dieser Betonung des Körpers und der Individualisierung knüpft die Gruppe mehr an Traditionen des expressionistischen Ausdruckstanzes an als an das moderne Tanztheater. Obwohl die Gruppe meist als vollständiger Organismus agiert, sind die Tänzerinnen und der Tänzer in ihren Bewegungen beinahe autistisch vereinzelt. Nur ein einziges Mal findet Kommunikation statt. In der Episode „throat – Kehle“ bemüht sich eine, die anderen am Fallen zu hindern. Vergeblich. Was von dieser sozialen Geste bleibt, ist bloß ein Mildern des Aufpralls. Wir alle sind allein, lautet die Botschaft des Abends. Das bliebe eine Binsenweisheit, wenn diese Einsamkeit nicht durch die Darstellung zur Erfahrung würde.

In der nächtlichen Hitze wirken die Beschwörungsriten, die Fruchtbarkeitstänze und der Taumel der Masse besonders schwül und eindringlich. Auch die dazugestellte, zeitgenössische Musik (John Zorn, Arvo Pärt, John Hodian und andere) trägt zur Mystik des Abends bei. Fast unmerklich wird im Verlauf des Abends vom Bühnengeschehen ausgehend ein Netz um das Publikum gesponnen. Beste Empfehlung für alle, die selbst in ihrem Innern auf Reisen sind. Christine Hohmeyer

Group Motation Dance Company, „Surge“. Bis zum 7.8. täglich außer montags, 21 Uhr, Theatersaal des Tacheles, Oranienburger Straße 53–56, Mitte.

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