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■ Das Leben als Tango – „Tango Visión“. Tanztheater im Podewil

Pausbacken, pummelige Figur und vor Pomade triefende Haare sind nicht gerade die Attribute eines Herzensbrechers und schon gar nicht die eines Helden. Und doch löste der Tod Carlos Gardels eine Selbstmordwelle bei den Frauen aus. Und doch wird er noch heute als Volksheld in Argentinien verehrt. Sein Todestag, an dem ein Meer von Blumen sein Grab auf dem Friedhof von Buenos Aires überflutet, ist jedes Jahr aufs neue ein Gedenktag an einen Mythos, eine Sehnsucht und eine Lebenseinstellung. Es ist der Tag des Tangos. Carlos Gardel war nicht nur Tango-Interpret, er war der erklärte König. Gardel lebte den Tango – er war ein Tangero, einer von denen, die ihr Leben dem Tango widmen.

Die Macht des Tangos hat auch Thilo Krigar nicht mehr losgelassen. Seit seiner Arbeit in Südamerika als Cellist in den Achtzigern hatte er eine Vision vom Tango. Die Synthese der unterschiedlichen Kulturen von Musik, Sprache und Tanz, die sich im Tango vereinen, wollte er in einem Stück, das die Geschichte des Tangos erzählt, nachzeichnen. „Tango Visión“, so lautet der lapidare Titel seines Tanztheaterstücks, das bis zum 27. August im Podewil aufgeführt wird. Es erzählt von einem gestrandeten Immigranten im Buenos Aires von 1880, der in einem surrealen Wachtraum die hundertjährige Geschichte des Tangos mit seinen Hoffnungen, Leidenschaften und Ängsten durchlebt. Der träumende Immigrant wird von dem Chilenen Adolpho Assor dargestellt. Fast mutet es autobiographisch an, wenn der seit acht Jahren in Deutschland lebende Besitzer des Garn-Theaters aus seinem anfänglich deutsch-spanischen Kauderwelsch die Klage des Emigranten von Brecht entwickelt. Das Stück beginnt mit der Geburt des Tangos in Argentinien, der zum Tanz der Armen in den Vorstädten wird. Der afrikanische Candomblé, die kubanische Habanera und die argentinische Milonga formen die ersten typischen Tangoschritte. Im mehrdeutigen Lunfardo, zusammengesetzt aus Spanisch, Italienisch, afrikanischen und indianischen Dialekten, singen die Tangeros von den betrogenen Hoffnungen und der bitteren Erkenntnis.

In seinem Traum durchlebt der Immigrant den Siegeszug des Tangos durch Europa, wo er unter anderem Zeuge eines mondänen Frauentangos wird, der von Christiane Rothacker und Kathleen Herzer amüsant in Szene gesetzt wird.

Während der argentinischen Militärdiktatur erscheint der Chilene als Rosen verkaufender Asylant. Sein Wunsch nach Freiheit und Frieden wird von Christiane Rothacker zartschmelzend mit Brechts Lied vom fernen Land Youkali besungen. Der Traum zerbricht, und der Immigrant resümiert zynisch: „Al mundo falta un tornillo“ (Bei der Welt ist eine Schraube locker), um mit den weiteren Protagonisten den Libertango (Freiheitstango) zu tanzen.

Musik und die Liedtexte spannen einen weiten Bogen über viele Epochen der Zeitgeschichte und unterschiedliche Kulturen. Afrikanische Rhythmen gehen in Kompositionen von Mosalini und Debussy über, und Texte von Brecht, Manzi und Borges beschreiben die politischen Umstände der Gesellschaft und die menschlichen Zustände im Liebesleid. Tango bedeutet nicht nur Erotik und ist nicht nur, wie es Enrique Santos Discépelo ausdrückte, „ein trauriger Gedanke, den man tanzen kann“. Tango ist eine Metapher für das Leben, ein Ausdruck des Erlebens und ein Aufruf zum Zusammenleben. Der deutsche Cellist, der rumänische Pianist und der argentinische Bandoneonist verstehen schon mit dem ersten zarten Ton, das Publikum für sich zu vereinnahmen. „Geben und Nehmen sind die Grundprinzipien des Tangos“, resümiert in diesem Sinn die Choreographin Brigitte Winkler, die gemeinsam mit Uli Barth technisch exzellent und ausdrucksstark ihre Philosophie in Szene setzt.

Tango Visión im Podewil Foto: Podewil

Vielleicht hat sich ja beim an die Aufführung anschließenden Tangoball bei dem einen oder der anderen der bittersüße Tangovirus eingenistet, der dem deutschen Gemüt so fremde Sätze entlockt, wie Carlos Gardel sie hervorzauberte. „Wenn es mir auch an Mut fehlte, mich zu töten, so hatte ich doch genug Mut, um dich zu lieben. Ich hatte den Mut, dich an meiner Seite zu haben, ohne dich mit meinen Händen zu erwürgen.“ Uff! La vida es un tango! Patricia Caspari

Tango Visión vom 23. bis 27. August um 20 Uhr im Podewil, Klosterstraße 68–70, Berlin Mitte. Vorbestellung unter 247 49 26.

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