Sanssouci: Nachschlag
■ Scheerbarts Enkel: Festival der Lautpoesie in der Wabe
Was Paul Scheerbart sich wenigstens im Namen wegrasierte, den Bart nämlich, tragen die Enkel des Lautpoeten im Gesicht. Dies zumindest ist eines der sichtbaren Ergebnisse des dreitägigen Festivals der Lautpoesie, das am Wochenende in der Wabe in Prenzlauer Berg stattfand. Der MC (Master of Ceremony oder: Ansager) hatte nicht mit Superlativen gegeizt; die jeweiligen Künstler seien die BeBeBeBes (Besten, Bekanntesten, Beständigsten, Bewundernswertesten). Phonetisch liegt man damit ziemlich nah an „bobeobi“, dem Namen des Festivals. Wer Lautpoesie bisher für einen poetischen Umgang mit „Sprache ohne Zeichenbedeutung“ hielt, in der eine Aussage durch die rhythmische Komposition von Wortteilen, ungewöhnlicher Betonung und Sprachgeräuschen entsteht, wird seinen Begriff um Elektronik und High-Tech erweitern müssen. Lautpoesie könne, so der MC, auch „laut“ sein, und etwa durch Tonverzerrungen, die Überlagerung von Stimmen oder das Spiel mit Lautstärken entstehen.
Nur wenige der auftretenden Künstler durchbrachen den durch Banalität, Geschrei oder ästhetisierenden Autismus abgesteckten Rahmen des Festivals. Der Franzose Bernhard Heidsieck versuchte die Semantik zu retten. Ohne daß dies am gesprochenen Wort noch festzumachen gewesen wäre, entstanden nachvollziehbare Aussagen. Japp Blonk wiederum gelang es, Lautpoesie durch Mimik mit Inhalt zu füllen. Widersprüche des Festivals wurden am Auftritt des Berliners gambianischer Herkunft Buba Jammeh deutlich. Er trug traditionelle Lieder vor, die ausschließlich mit Klick-, Schnalz- und anderen gutturalen Lauten auskommen. Was in Europa nur als ästhetisches Mittel zur Tonerzeugung gilt, ist in seiner Heimat eine Möglichkeit der Kommunikation. Hiermit wurde die Behauptung in Frage gestellt, Lautpoesie sei eine Kunstform dieses Jahrhunderts.
Glaubhaft bei den Vorträgen des russischen Künstlerpaares Nikonowa/Segay war immerhin, daß ihre Art der Artikulation in der UdSSR eine subversive Kritik am sozialistischen System war. Was es heute sein kann, wurde auf dem Festival nicht thematisiert. Auch Rap beispielsweise ist doch Lautpoesie. Christian Ide Hintze las ein Goethe-Gedicht im entsprechenden Rhythmus vor. Auf die Frage an Walerie Scherstjanoi, der das Festival konzipiert hat, warum so viele Künstler einen Bart haben und warum nur zwei Frauen auftraten, antwortete er, die Künstler hätten keine Bärte, und mehr Lautpoetinnen gebe es nicht. Mein Kommentar: „Zurück auf Start!“ Waltraud Schwab
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