Sanssouci: Vorschlag
■ Reihe „Schreiben unter Stalin“ im MGT: Ossip Mandelstam
Am 21. Januar 1924 stirbt Lenin, der intellektuelle, aber eher kunstbiedere Führer der russischen Oktoberrevolution. Ossip Mandelstam schreibt Mitte der zwanziger Jahre, zu Beginn der Eiszeit, daß ihm die Oktoberrevolution „das Gefühl einer persönlichen Bedeutsamkeit“ genommen habe. Der russisch-jüdische Dichter ist ihr dennoch dankbar – dafür, daß sie mit „dem geistigen Versorgtsein und einem Leben auf Kulturrente“ ein für allemal Schluß gemacht hat. Doch er ahnt, daß Lenins Tod eine Ära des Verstummens und der Terrors einleitet. Während das Land in Trauer versinkt, hat „Väterchen Stalin“ den Kurswechsel längst vorbereitet. Ab 1927 herrscht der ehemalige Priesterseminarist aus Tiflis als Diktator. „Schreiben unter Stalin“, die Lesereihe des Maxim-Gorki-Theaters, könnte auch „Schweigen unter Stalin“ heißen.
Schon 1923 hat Mandelstam Schwierigkeiten, seine Gedichte in russischen Zeitschriften abzudrucken. Auch sein einflußreicher Freund Bucharin, der damals noch den Scheinwerfer redigiert und später zum Mitglied des Politbüros aufsteigt, kann Mandelstam nur Übersetzungen anbieten. Die Revolution, als deren Schuldner sich Mandelstam doch betrachtet, benötigt seine Gaben nicht, so wie sie auch die Gaben Achmatowas, Pasternaks, Majakowskis und Jessenins nicht benötigt. Mandelstam beginnt an Herzattacken und Atemnot zu leiden; er kann keine Lyrik mehr schreiben. Wenn Mandelstam die Schaukästen in Moskaus Straßen mit den Portraits der Politiker darin betrachtet, fürchtet er „fette Finger auf Gedichten“. Rußland gähnt ihn mit „Kürbisleere“ an, erscheint ihm Marx-„bärtig“ und dumpf, voller „kleinmütig angelegter Fenster“ und „niedriger Seelchen“. Im April 1930 kann Mandelstam für ein halbes Jahr der stalinistischen Enge entfliehen. Bucharin beschafft ihm die Papiere für eine lang ersehnte Reise nach Armenien. Hier findet Mandelstam zum letztenmal seine lyrische Stimme wieder. 1938 stirbt er in einem Lager bei Wladiwostok, und etwa dreißig Jahre später, 1964, zieht Nadeschda Mandelstam die entsetzliche Bilanz: „Jeder aus der Führungsspitze, der O.M. helfen wollte, kam um.“
Mandelstams Schicksal anschaulich zu machen ist das Anliegen dieses dritten Abends der Reihe „Schreiben unter Stalin“, die mit Platonow und Pasternak fortgesetzt wird. Daniel Minetti, Renate von Wangenheim und Reinhard Michalke lesen aus Gedichten, Briefen und Tagebuchaufzeichnungen Ossip Mandelstams, aus den Untersuchungsakten des NKWD und der Autobiographie Nadeschda Mandelstams. Anke Westphal
Heute, 20 Uhr, Maxim-Gorki-Theater, Studiobühne, Am Festungsgraben 2, Mitte
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen