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■ 50 Jahre nach Sachsenhausen: „Wohnt hier ein Isländer?“ im Gorki-Theater

Gesegnet sei der Krieg, der meine Söhne reich gemacht hat, heißt es heute noch in Island, denn erst mit der britischen Besatzung 1940 gewann das Land Anschluß an europäischen Wohlstand. Leifur Mullers grauenerregende KZ-Erfahrungen stießen in Island deshalb erst mal auf Unverständnis, und erst jetzt scheint man bereit, ihm zuzuhören. Die Biographie des einzig überlebenden isländischen KZ-Häftlings „Wohnt hier ein Isländer?“ wurde sogar ein Bestseller.

Mit der Bühnenfassung des in Island höchst populären Stoffes (im Oktober 93 uraufgeführt) ist nun das Privattheater „Íslenka Leikhúsid“ in Berlin zu Gast. Die Gruppe erarbeitete extra für dieses Gastspiel eine deutsche Fassung. Als reicher Kaufmannssohn mußte Leifur mit 18 Jahren zur Handelsschule ins norwegische Oslo – das war 1938. Zwei Jahre später marschierte Hitlers Armee in Dänemark und Norwegen ein. Mullers „Fluchtversuch“ in seine Heimat wird ihm als Kollaboration ausgelegt, und die Gestapo deportierte ihn ins KZ Sachsenhausen.

Im Gegensatz zum sehr chronologisch verfaßten Buch montiert Regisseur und Autor Thórarinn Eyfjörd Kindheitserinnerungen Mullers wechselweise mit Lagerbeschreibungen und immer wieder ins Leere greifenden Fragen. Ort der Handlung ist eine Arztpraxis. Muller wartet auf den Doktor und hört aus Langeweile dessen Diktiergerät ab. Er erfährt, daß er unheilbar an Krebs erkrankt ist. Erst jetzt kann er noch einmal den Fundus seiner schrecklichen Erfahrungen von Demütigung und Folter anzapfen. Er spricht alles aufs Band und verläßt die Praxis.

Mullers Krankheit interpretiert Eyfjörd als Symptom des Nicht-reden-Könnens. Für ganz zentral hält Hauptdarsteller Pétur Einarsson jene Stelle in Buch und Stück Mullers, wo er beschreibt, wie ein Zellennachbar nach Strich und Faden verprügelt wieder zurückkommt. „Erst jetzt verstand ich, daß die Spanne zwischen Wissen und Verstehen erstaunlich groß sein kann“, schreibt Muller. Diesen Unterschied zwischen Wissen und Verstehen nachfühlbar zu machen, darum geht es der isländischen Truppe. Über beinahe zwei Jahre zogen sich die Gespräche zwischen dem Journalisten Gardar Sverisson und Leifur Muller hin, bis – kurz vor Mullers Krebstod – dessen Biographie 1988 erscheinen konnte. Er wolle nicht als Unmensch erscheinen, deswegen habe er so lange geschwiegen, sagt Muller. Selbst seiner Familie wurden erst durch die Biographie „Eigentümlichkeiten“ Mullers, wie die immer in Griffnähe zu liegen habenden Kleider etc., erklärlich. Muller benutzte den Journalisten offenbar als eine Art Psychotherapeut. Seit seiner Rückkehr aus dem KZ litt er, der eigentlich Müller hieß, aber die Punkte entfernen ließ, um seiner deutschen Abstammung zu entfliehen, unter dem KZ-Syndrom. Er konnte die deutsche Sprache nicht mehr hören, ohne daß ihm übel wurde. Kirsten Longin

„Wohnt hier ein Isländer?“, heute, 19.30 Uhr, Maxim Gorki Theater, Mitte, 26./27.4., 20 Uhr, Kulturbrauerei, Knaackstraße 97, Prenzlauer Berg

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