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SanssouciVorschlag

■ Untröstliche Welt: World Press Photo 1995 im Amerika Haus

Ein merkwürdiges Unterfangen, dieser World-Press-Photo- Wettbewerb. Einerseits ist er ein Forum für Höchstleistungen, denn die Fotograf(inn)en werden für ihre Arbeiten mit Preisen und Öffentlichkeit belohnt. Andererseits ergibt der Katalog zur Ausstellung, die derzeit im Amerika Haus zu sehen ist, ein „Jahrbuch“: Es soll also das weltweite Nachrichtengeschehen eines Jahres repräsentativ abgebildet werden.

Fast alle Bilder schöpfen aus dem Fundus des Archaischen, des ewigen Weltenlaufs. Nicht eine Spur von... sagen wir: Love Parade. Nichts aus den Ghettos von Los Angeles. Nicht ein Bild aus dem Aufsteigerland Korea. Nur wenige Fotos aus den Metropolen. Ganz süß, wenn auch ein bißchen eklig: eine bunte, raffiniert ausgeleuchtete Reportage von Cipriano Pastrano über Ratten in Madrid.

Die Jury besteht aus zwei Bildredakteurinnen bei Magazinen (den einzigen Frauen), drei Direktoren von Agenturen oder Archiven und vier Fotografen. Die Vorsitzende, Michele Stephenson von Time Magazine, beschreibt die Dynamik der Auswahl: „Stundenlang schauten wir uns die unglaublichsten und ergreifendsten Fotos aus Ruanda, Haiti und Tschetschenien an, was uns sehr erschöpfte, aber dann konnten wir uns bei Landszenen aus Bulgarien und einem intimen Portrait der Familie eines Fotografen aus dem ländlichen Kanada wieder erholen.“

Die Fotografen, 2997 an der Zahl, kommen aus 97 Ländern. Ruanda, Nachrichten-Brennpunkt des Jahres, ist nicht vertreten. Mehr als ein Fünftel der Bewerber stammt aus den USA, unter ihnen viele Frauen, überraschenderweise auch Nan Goldin und natürlich Mary Ellen Mark. Carol Guzy, Fotografin bei der Washington Post, ist die einzige von ihnen, die mit ihren Bildern vom erneuten Machtwechsel in Haiti zwei Preise erhält.

Was der World-Press-Photo-Wettbewerb will, sind die „harten Fakten“. Die amerikanischen Nachrichtennetze sind immer noch weit gespannt, wirtschaftlich potent und flexibel. Ihre Leute gehen ohne Zögern überallhin – und vergessen auch in den Katastrophenregionen der Welt die Regeln der Fotokunst nicht: Den Hauptpreis bekommt James Nachtwey, der für die Agentur Magnum und das Time Magazine in Ruanda war. Das querformatige Bild zeigt einen Hutu, der von Hutu-Milizen – wie es in der Bildlegende heißt – „mit Buschmessern bearbeitet“ wurde, weil er angeblich mit den Tutsi-Rebellen sympathisierte. Im stark modulierten Licht sehen die genähten Wunden des jungen Mannes wie afrikanische Stammesmerkmale aus. Gleich hinter dem Profil wird das schwarzweiße Bild unscharf, ein Paradestück „subjektiver Fotografie“, die auch in den fünfziger Jahren gut angekommen wäre.

Pressefoto des Jahres von James Nachtwey Foto: Katalog

Gegenstück: eine ebenfalls schwarzweiße Alltagsreportage des kanadischen Bildjournalisten Larry Towell, der seine Familie mit betonter Beiläufigkeit in der Sphäre nordamerikanischer Naturwüchsigkeit zeigt. Die gediegene Heimidylle eines Reporters, die Legende vom Mann mit der unaussprechlichen Bürde der blutigen Wahrheit da draußen.

Die Betrachter haben keine Wahl, als sich der von Jury und Fotografen entwickelten Psychologie zu stellen. Die übliche Abfolge von schwerem und leichtem Stoff ist eingehalten, aber wirkt anders als in den Illustrierten, denen Michele Stephenson vorwirft, daß sie „so wenig Material veröffentlichen“.

Erst nach gründlicher Begehung merke ich, daß die Bildzeilen als Tröster ausgelegt sind: „Die Feindschaft zwischen Hutus und Tutsis brodelt schon seit Jahrzehnten“: Die Katastrophe ist also eine Art Summe ihrer Geschichte. Oder es wird darauf hingewiesen, daß bei einem Anschlag oder einem Rennsportunglück jemand mit dem Leben davongekommen ist. Oder die Leistung des Fotografen vor Ort wird unauffällig herausgehoben, eine Heldenimpfung des Betrachters gegen die unbestreitbare Hoffnungslosigkeit der Szenen.

Letztlich geht es immer wieder um die „family of man“, die, von Unbill und Endzeit bis auf die Knochen zerfressen, sich in ihrem Auftrag, zu entkommen, einig ist. Je genauer der Fotograf weiß, worin der moralische Auftrag des World Press Photo besteht, desto sicherer liegt er im Auge des Wirbelsturms der Bemühungen der Jury.

Zwei Bilder, ohne Sperenzchen und Fotokunst gemacht: zwei Kinder am Leichnam ihrer Mutter, irgendwo in Afrika (der Fotograf läßt sie, indem er sie in seine Reportage einreiht, in ihrem Elend zurück); und der Vogelblick auf einen von einer Bombe zerfetzten Bus in Tel Aviv. Die Explosion hat die Karosserie aus dem Bild geblasen, übrig ist das Chassis. Wie in einem Skelett liegt das zerstörte Innere bloß. Die orangefarbenen Polster, die toten Menschen: wie kleine Fische im Bauch eines geschlachteten Wals. Ulf Erdmann Ziegler

„World Press Photo 1995“. Bis 19. 8., Mo.–Mi., Fr. 11 bis 17.30 Uhr, Di., Do. 11–20 Uhr, Sa. 11–16 Uhr, Amerika Haus, Hardenbergstraße 22, Charlottenburg, Katalog 35 DM

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