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■ Die Putsch-Gerüchte in Moskau – ein Journalisten-FakeSandkastenspiele?

Morgen, Kinder, wird's was geben! Der Fernsehsender NTW versprach uns Donnerstag abend, am nächsten Morgen werde man in der Wochenzeitung Obschtschaja Gaseta lesen können, wer er denn sei, dieser staatsanwaltlich gesuchte Autor der unter Parlamentariern zirkulierenden und im selben Blatt veröffentlichten „Version Nr. 1“, des Szenarios für einen gegen Präsident Jelzin gerichteten Putsch. Seit einer Woche waren Land und Welt in Unruhe. Doch am Tag der Wahrheitsfindung wurde die Wochenzeitung nicht ausgeliefert. Auf unsere Bitte hin brachte die Redaktion des O.G. abgekürzten Blattes per Fax Licht in unser morgendliches Grauen. Verfasser der „Version Nr. 1“ ist der Ex-Dissident und Journalist Gleb Pawlowski, Chefredakteur der international renommierten Zeitschrift Das 20. Jahrhundert und der Frieden und – Mitglied des Redaktionsrates der O.G. Er bezeichnete die „Version“ als „Arbeitstext“, den er unter Mitwirkung anderer Personen aus den verschiedensten, jedermann zugänglichen Agenturmeldungen komponiert habe. Der Text sei ihm offensichtlich von unbekannten „Hilfsbereiten“ vom Schreibtisch gestohlen worden.

Der Umstand, daß der Urheber im Redaktionsrat des eigenen Blattes sitzt, hat die O.G. zu einer gründlichen Distanzierung veranlaßt. Aus lauter Gründlichkeit hält sie es aber „nicht für nötig“, Pawlowskis Erwägungen weiter nachzugehen. Wir wissen bislang also nicht, welche Zwecke er mit seinem Sandkastenspiel verfolgte.

Hier noch einmal eine Kurzfassung des gebotenen Drehbuchs: Zu Filmbeginn ist Präsident Jelzins Gesundheit total im Eimer – für Ministerpräsident Tschernomyrdin, den ersten stellvertretenden Ministerpräsidenten Oleg Soskowjez, Moskaus Oberbürgermeister Juri Luschkow und Generalstabschef General Kolessnikow Grund und Anlaß genug, ihn zu entmachten. Nach guter alter Sowjettradition nutzen sie dazu seinen Urlaub in Sotschi. Als flankierende Maßnahme schließen sie schnell noch diverse Stillhalteabkommen, unter anderem mit Verteidigungsminister Gratschow, Innenminister Jerin und Abwehrchef Stepaschin. Der Ex-Vorsitzende des Sicherheitsrates und jetzige Präsident der „Assoziation der Warenproduzenten“, Juri Skokow, verkündet Jelzins Absetzung im Fernsehen und zeigt dazu als pädagogisches Dokumentarmaterial gleich ein paar Filmchen, in denen Jelzin – nicht ganz Herr seiner selbst – durch die Gegend torkelt. Zum Schluß gibt die KP allen Verschwörern ihren Segen.

Die O.G. bezeichnete das ganze gleich bei Veröffentlichung als „Mystifikation“. Warum aber hat sie es dann veröffentlicht? „Bei einer Bombendrohung gegen ein Kino oder Warenhaus wird man ja auch erst mal die Leute evakuieren und erst dann die Bombe suchen“, rechtfertigte sich der Chefredakteur der O.G.. Befürchtete man also doch, daß etwas „dran“ sein könnte? Was übrigens Juri Skokows angeblich geplanten Fernsehauftritt angeht, so teilte der Chef der TV-Station Ostankino, Ex-Gorbatschow-Berater Alexander Jakowlew, mit, ein Anruf von „dritter Seite“ habe ihn vor einem solchen Plan gewarnt.

Wo Talente kultiviert werden, da wollen sie sich auch betätigen. Das Produzieren von Gerüchten war in der UdSSR ein angesehener Produktionszweig. Schaden werden sie langfristig den Massenmedien, deren Treiben schon der Mehrheit der Politiker ein Dorn im Auge ist. Die „Version Nr. 1“, im inneren Kreis der Obschtschaja Gaseta entstanden, wirkt wie ein Virus in einer der Keimzellen der freien russischen Presse. „Version Nr. 2“ und „Version Nr. 3“ liegen schon beim Staatsanwalt. Wir Korrespondenten hoffen in dieser Hinsicht auf noch viel Humbug. Denn der einzige Beweis für die Richtigkeit von Putsch-Gerüchten ist – noch immer ein Putsch. Barbara Kerneck, Moskau

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