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San Gottardo a gogo

■ Blechlawinen am Gotthard–Tunnel werden für die Anwohner zum Alptraum / Von Thomas Scheuer

In unendlichen Kolonnen rasen sie in diesen Tagen wieder dem „Sommerloch“ entgegen: Tausende Autos zwängen sich auf dem Weg an die sonnigen Strände des Südens täglich durch das Nadelöhr Gotthard–Tunnel, mit seinen 17 Kilometern der längste Straßentunnel der Welt. Auf dem Weg in Tunnel neuerdings für gefährliche Chemie–Transporte gesperrt. Die giftigen, ätzenden oder explosiven Tanker schleppen sich nun über die Paßstraße durch die Dörfer, in denen - nicht erst seit dem Unglück von Herborn - der Potest gegen die „Giftautos“ lauter wird.

„Veloplausch - Bicycletta a gogo“ - zweisprachig werben die Schweizer Bundesbahnen im Bahnhof Göschenen für einen umweltfreundlichen Extraservice: Für zwölf Fränkli kann man ein lindgrünes Sportfahrrad entleihen und damit die rund 25 Kilometer auf der an Serpentinen reichen „Historischen Straße durch Uri“ von Göschenen nach Altdorf hinunterbrettern, mal parallel zur Autobahn, mal untendurch. In Altdorf, wo Wilhelnm Tell, der erste Schweizer Schützenkönig, seinerzeit seinem Sohn den Apfel von der Birne ballerte, schlendert ein junger Rekrut im Tarnanzug, das Sturmgewehr geschultert, an einem schon leicht abgeblätterten Gebäude vorbei, als ich die Inschrift „Quartier des Generalissimus Suworow am 26.Sept. 1799“ in meinen Notizblock übertrage. Der Bewohner des geschichtsträchtigen Domizils, der 83jährige Karl Jauch, erweist sich als die Personifizierung der Verkehrs– und Tourismusgeschichte dieses Jahrhunderts. Seine Kindertage fielen noch ins Zeitalter der Postkutschen. Später betätigte sich Jauch selbst im Tourismus, organisierte Bus–Reisen nach Italien. Nur wenige Jahrzehnte lagen zwischen der Postpferdehalterei seines Onkels und dem eigenen Einstieg in den Tou rismus - und doch Welten. „Damals hatte nicht jeder Lümmel ein Auto“, erinnert er sich an die rasenden Zeiten. Die Busreisen waren die Vorboten jenes Massentourismus, der heute, abgefüllt in Millionen individueller Blechdosen, das Tal zum Gotthard erstickt. Der Weg über den Gotthard war schon immer einer der wichtigsten europäischen Nord–Süd–Traversalen über die Alpen. Um den Paß herum entstand die heutige Eidgenossenschaft. Seiner verkehrs– und handelspolitischen Bedeutung verdankt der Gotthard auch seine militärische Karriere. Nach ihm streckten die Habsburger von Norden ebenso die Hände wie die Herren von Mailand von Süden; natürlich eroberte Napoleon ihn irgendwann einmal; der russische General Suworow - eben jener, der im Jauchschen Haus einst Quartier machte - legte sich wiederum mit den Franzosen an. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges höhlte das Militär den Gotthard zum Zentrum des „Reduit“, zur Alpenfestung, aus, löcherte das Granit–Massiv wie den sprichwörtlichen Schweizer Käse mit Hunderten von Artillerie–Stollen und Vorrats–Bunkern. Doch während der Beweis moderner militärischer Zerstörungskraft den Bewohnern der Alpentäler in diesem Jahrhundert bisher erspart blieb, leisteten die bleihaltigen Invasions–Armeen des Kohlenmonoxid–Zeitalters auf ihrem Feldzug gen Süden ganze Arbeit: Um ihren Durchmarsch zu erleichtern, wurden die engen Täler - im Norden das Urner Tal (Kanton Uri) und im Süden die Leventina (Kanton Tessin) - mit gigantischen Betonpisten, Brückenwerken und Tunnelbauten in wahre Aufmarschrampen des Massentourismus verwandelt. Die Abgasschleppen, die die Autokolonnen hinter sich herziehen, steigen die engen Talwände hoch und setzen dem Wald zu, der seine lebenswichtige Funktion als Bannwald gegen Lawinen und Geröll immer weniger erfüllt. Mit Betonpollern und Stahlnetzen versuchen die Baumeister, die verreckten Bäume künstlich zu ersetzen. „Unser Wald verreist auch“, stand zynisch auf dem Spruchband, das Aktivisten des „Kritischen Forums Uri“ zum diesjährigen Saisonauftakt an Pfingsten den Automobilisten vor die Windschutzscheiben hielten. Letztere fanden Zeit zum Lesen: Der 32stündige Pfingst–Stau brach alle bisherigen Staurekorde. Am verheerendsten fällt der saisonale Giftgasangriff auf die Natur am Ein– und Ausgang des Tunnels aus: Das Belüftungssystem des Alpen–Lochs ist für eine maximale Kapazität von 1.800 Fahrzeugen pro Stunde im Gegenverkehr ausgelegt; man hat in der Leitzentrale aber auch schon 2.000 gezählt. Die Abgaswerte werden ständig automatisch gemessen, computermäßig ausgewertet - und im übrigen streng unter Verschluß gehalten. Wenn die Ventilatoren das Abgasaufkommen nicht mehr verkraften, wenn die Einsatzleitung befürchten muß, daß bald dem ersten Driver wegen Sauerstoffmangel die blaß–bleiche Stirn auf den Lenker knallt, dann wird der Tunnel dichtgemacht und der gesamte Verkehr wie in alten Zeiten über die Paßhöhe umgeleitet. Stundenlange Staus sind die Folge. Neben jenen, die ohnehin der schnellen Flitze durch die graue Röhre die panoramaträchtige Fahrt über die traditionsreiche „Strada del San Gottardo“ vorziehen, windet sich dann die kilometerlange Karawane der sonnenhungrigen Schnellurlauber über die Serpentinen. Die Dörfer längs der Strada zwischen Göschenen und Airolo begrüßen die Blechlawine zwiespältig: Landwirte und Umweltschützer klagen über die Abgase; die Tourismus– Manager hingegen versuchen neuerdings mit großen Werbeschildern die Transit–Rasenden zum gastronomischen Umsatz von der schnellen Trasse runter auf die „Historische Straße durch Uri“ zu locken. Einig sind sich alle entlang der Paßstraße allerdings gegen die „Giftautos“. Womit keineswegs die normalen Stinker gemeint sind, sondern die Tanklastzüge mit explosiven oder leichtentzündlichen Chemikalien, die sich im Schrittempo über den Paß quälen. Denn seit diesem Frühjahr haben die Behörden den Tunnel für prekäre Chemietransporte gesperrt. Vermutlich wurden die Verantwortlichen, sensibilisiert durch die Chemie–Katastrophe bei Sandoz, zunehmend von der Horror–Vision eines Tanker–Unglücks im vollbesetzten Tunnel geplagt. Nun müssen alle gefährlichen Chemie–Transporte über den Berg, solange der Paß Schnee– frei ist. Nur im Winter dürfen sie durch den Tunnel. Das findet der Truck–Driver aus Dortmund, den ich auf der Paßhöhe am Wurststand im Schatten der steinernen „Statua Madonna di Fatima“ antreffe, zwar hochgradig unlogisch, den Umweg nimmt er gleichwohl gern in Kauf. „Ist doch toll hier oben“, schwärmt er und bannt seinen Tanker vor dem Hintergrund aus Fels und Schnee aufs Celluloid. Er kommt aus Rom und hat eine leicht entflammbare Chemikalie geladen, die zur Herstellung von Lacken gebraucht wird. Doch nicht alle Fahrer nehmen das Tunnel–Verbot von der touristischen Seite. Immer wieder stoppt die Polizei bei Stichproben LKWs am Tunneleingang; nicht selten ist die Ladung falsch deklariert. Vor zwei Wochen schnappte eine Streife zwei Laster aus der DDR, die jeweils zehn Tonnen Bleioxide geladen hatten. Das ist 200 mal mehr als die erlaubte Höchstmenge von 50 Kilogramm dieser Chemikalie für die Tunnelpassage bei geschlossenem Paß. In den Bergdörfern entlang der Paßstrecke weckte die neue Regelung Protest. Nachdem ein besorgter Brief der Gemeinden von Bern recht kaltschnäuzig beantwortet wurde, werden in Göschenen, Andermatt, Hospenthal und Airolo nun Unterschriften unter eine Petition gegen die „Giftautos“ gesammelt. Ein „Komitee gegen die Gifttransporte“ hat sich konstituiert. „Die sehen nur das Problem Tunnel“, erregt sich Herr Gmür, Gemeindeschreiber von Andermatt, über diese „Verschiebung des Risikos“. „Unsere Interessen als Anwohner werden nicht berücksichtigt.“ Eine Lösung sieht er in der Hucke–Pack– Verladung von Problem–Frachten auf die Bahn. „Die müßten in Basel, oder besser schon in Deutschland, auf die Bahn.“ Aber das sei den Spediteuren wohl zu teuer. Gmür wiederholt es mehrmals in der Diskussion: „Das Ganze ist doch ein europäisches Problem.“ Tatsächlich sind es die Cargo–Karawanen zwischen den industriellen Ballungszentren Nord– und Südeuropas, die die Transit–Drehscheibe Schweiz am Nadelöhr Gotthard ins Schleudern bringen. Und natürlich der Massentourimus - sonnenhungrige Süddeutsche, die übers Wochenende kurz ins Tessin flitzen, Nordlichter, die ihre Wohnzimmer– Anhänger über die „HaFraBaMi“ ( Spitzname für die Autobahn Hamburg–Frankfurt–Basel–Milano) an Italiens Strände schleppen. Um den Schadstoffausstoß direkt am Tunneleingang zu senken, testet die Polizei seit letzten Samstag ihr neues Konzept der „Dosierung“. Bereits weit vorne im Tal werden durch Ampeln künstlich Staus produziert und der Verkehr dann schubweise durch den Tunnel geschleust. Damit wird der Stau - letzten Samstag „nur“ fünf Kilometer - samt Abgasausstoß von Göschenen nach Amsteg oder Altdorf vorverlagert. Eine Verbesserung erhoffen sich die Verkehrsplaner erst von einem neuen „Basistunnel“, über den 1988 in Bern die Entscheidung fallen soll. Dieser „Basistunnel“ würde von Amsteg bis Biasca führen und soll als reiner Eisenbahntunnel, speziell für den Hucke– Pack– und Container–Verkehr dimensioniert, die Gotthard–Autobahn spürbar vom Schwerlastverkehr entlasten. Inbetriebnahme: Frühestens im Jahr 2020 - falls er beschlossen wird.

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