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Salman Rushdie: Der Wille zum Sieg

■ Eine Antwort auf die „Briefe an Rushdie“

Zuallererst danke ich aus ganzem Herzen all den Schriftstellern, die zu meiner Unterstützung oder Verteidigung offene Briefe schrieben, oder auch zur Verteidigung der größeren Anliegen und Prinzipien, die durch die sogenannte „Affäre Rushdie“ aufgeworfen wurden (ach, wenn ich keine „Affäre“, kein „Fall“ mehr sein müßte und zu der viel härteren Aufgabe zurückkehren könnte, nichts als ein Schriftsteller zu sein!); und ebenso muß ich der tageszeitung und dem Projekt World Media für ihre Rolle bei dieser Initiative danken. Ich habe es oft gesagt: Die Vielzahl aktiver und beredter Fürsprecher und darüber hinaus die Millionen schweigender Parteigänger haben mir die Kraft gegeben, mit den Schwierigkeiten der vergangenen drei Jahre fertig zu werden; und das gilt zur Gänze auch heute noch. Also danke ich Nadine Gordimer für die Frage, ob wir uns in eine Zeit zurückbewegen, in der Verfolgung geduldet wird, wenn sie von der Religion ausgeht, und Kazuo Ishiguro, weil er sich (wie es in den letzten Jahren nur wenige taten) auf jene Satanischen Verse konzentrierte, die ich wirklich geschrieben habe, und Paul Theroux, weil er seinem Zorn die Zügel freigab, und Johannes Mario Simmel, der uns daran erinnerte, daß hier die Realitäten großer Geschäfte im Spiel sind, daß Menschenrechte nur allzu gern in den Dreck getreten werden, wenn fette Verträge winken, und am herzlichsten vielleicht danke ich Fahimeh Farsaie, weil sie betonte, daß der Angriff gegen mich und meine Arbeit nur ein Gefecht in einem viel größeren Krieg ist.

Wenn zu einem Thema, zu dem schon so viel gesagt wurde, noch etwas gesagt werden muß — dann über diesen größeren Krieg. Fahimeh Farsaie kritisierte in ihrem Artikel, ich hätte mich nicht für andere Schriftsteller eingesetzt, für andere Künstler, die verbannt, eingesperrt, gefoltert und sogar umgebracht wurden. In Wahrheit versuchte ich schon vor Khomeinis Fatwa so laut als möglich zu sagen, daß in der moslemischen Welt von heute die Gedankenpolizei sehr mächtig geworden ist, und nicht nur in der moslemischen Welt; daß die Versuche zur Einschränkung der Freiheit der Phantasie, der Freiheit des Denkens und der abweichenden Meinung an Kraft zunahmen. Ich habe das immer gesagt, bei fast jeder sich bietenden Gelegenheit, und ich werde das weiter tun.

Der entscheidende Punkt am Fall der Satanischen Verse lautet: Weil das Buch in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit geriet, ist es zum Symbol und zum Archetypus für alle anderen Fälle von Unterdrückung geworden. „Blasphemie“ und „Ketzerei“, jene mittelalterlichen Hunde des Krieges, wurden von der Leine gelassen — und wir dürfen nicht vergessen, daß „Blasphemie“ und Ketzerei in der ganzen Menschheitsgeschichte dazu verwendet wurden, den menschlichen Geist, die freie Stimme zu fesseln und mundtot zu machen. Diese Schlacht muß gewonnen werden, die Fatwa und die sie begleitenden Drohungen müssen verschwinden, denn der Sieg wäre ebenso real (sehr angenehm für mich) wie symbolisch — es wäre ein großer Sieg in diesem größeren Krieg. Und ginge die Schlacht verloren, so wäre das ein Rückschlag in dem größeren Konflikt. Wir müssen gewinnen, weil wir nicht verlieren können; es geht um nicht weniger als um unseren Geist.

„Das besondere Übel an der Unterdrückung einer Meinungsäußerung“, schrieb John Stuart Mill in seinem klassischen Essay Über die Freiheit, „besteht darin, daß sie die ganze Menschheit beraubt, die Nachkommen ebenso wie die Zeitgenossen — und alle, die mit dieser Meinung nicht übereinstimmen, werden noch mehr beraubt als jene, die sie vertreten. Denn ist die Meinung richtig, so verlieren sie die Möglichkeit, die Wahrheit gegen den Irrtum einzutauschen; ist sie falsch, verlieren sie fast ebenso viel: die klarere Wahrnehmung und den lebendigeren Eindruck von der Wahrheit, wie sie entstehen, wenn die Wahrheit mit dem Irrtum kontrastiert wird.“

Wegen der Besonderheiten beim Schreiben von Fiktion bedarf es einiger ergänzender Worte zu Mills großem Text. Denn beim Schreiben von Fiktion ist es normal, daß keine einzelne Meinung durchgehend vertreten wird. In dieser Hinsicht ähnelt der Schaffensprozeß den Abläufen in freien Gesellschaften, die ihrem Wesen nach geteilt, pluralistisch, sogar streitsüchtig sind; es sind Gesellschaften in der Bewegung, und mit der Bewegung kommen Spannungen und Konflikte. Freie Völker schlagen Funken, und diese Funken sind der beste Nachweis der Freiheit. Der Totalitarismus versucht immer, die Gesellschaft aus der Bewegung zum Stillstand zu bringen, ihren Funken auszutreten, die vielen Wahrheiten der Freiheit durch die eine Wahrheit der Macht zu ersetzen.

Im Schaffensprozeß stoßen und schlagen sich im Schriftsteller viele Haltungen, viele Sichtweisen der Welt, und aus diesen Reibungen entsteht der Funke: das Kunstwerk. Diese innere Vielfalt, diese innere Menge zu ertragen, geschweige denn zu erklären, fällt Künstlern häufig schwer. Erinnern wir uns an Diderots inneren Streit zwischen dem atheistischen Rationalismus und seinen eigenen geistigen Bedürfnissen. „Es erbittert mich“, schrieb er, „daß ich in eine teuflische Philosophie verstrickt bin, die mein Geist akzeptieren muß, mein Herz aber ablehnt.“ Auch Dostojewski litt daran, daß absoluter Glaube und absoluter Unglaube sich in ihm bekämpften. Und als William Blake bemerkte, daß John Milton in Paradise Lost bei der Beschreibung der Hölle viel besser war als bei der des Himmels, stellte er billigend fest, natürlich sei Milton, dieser fromme Genius, ein Dichter von der Partei des Teufels. In jedem Künstler — vielleicht in jeder menschlichen Phantasie — gibt es, um Blake zu variieren, eine Ehe zwischen Himmel und Hölle.

Viele der Schriftsteller, die sich bei dieser Kampagne äußerten, haben es bemerkt: Der „Fall“ der Satanischen Verse weist im Kern ein erschreckendes Gleichmaß auf. Hier haben wir einen Roman über die Konflikte und Spannungen zwischen — und auch in — den weltlichen und religiösen Sichtweisen der Welt, und in eben diese Konflikte wurde der Roman hineingezogen. Wie Kurt Vonnegut sagen würde: So kann's gehen.

Und hinter den Satanischen Versen, hinter all den Briefen meiner Schriftstellerkollegen, steht unser Wissen: Der Versuch, aus der dicken Suppe menschlicher Erfahrung eine Form zu schaffen, die ständige Umformung der Bedeutung, die dem künstlerischen Prozeß zu eigen ist — all das darf nicht einer Bande von Bütteln überlassen werden, und hätten sie noch so große Schießeisen. Es handelt sich — im tiefsten Grunde, wenn ich ein so fundamentalistisches Wort benutzen darf — um einen Kampf der Willenskraft. Aus den vielen offenen Briefen geht belebend und stärkend hervor, welche Art Wille gegen Tyrannei und Verleumdung und Mord gebraucht wird: der Wille zum Sieg.April 1992

Aus dem Englischen von

Meino Büning

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