: Sahara und die Riesenknacker Von Viola Roggenkamp
Es ist ja nur ein Glück, daß wir uns nicht klar machen, wieviel wir über uns verraten, wenn wir über andere schreiben. Glück für uns und auch für die anderen. Die hätten sonst gar nichts zu lachen. Ich zum Beispiel möchte seit Wochen, ach was, seit Monaten, also, um ehrlich zu sein, seit Jahren möchte ich über eine bestimmte Würstchenbude schreiben.
Sie steht im Stadtzentrum von Hamburg. Etwa zwischen Rathaus und Hauptbahnhof. Eigentlich keine Bude, schon eher ein gläsernes Häuschen. Und bei gutem Wetter stellt der Mann mit der dunkelblauen Schürze drei Tische auf die Straße, jeder so hoch wie ein Rednerpult. Daran stehen die Leute und essen Würste, gebraten oder gebrüht, ganz oder zerschnitten. In der Zeit der Mittagspause kommen vor allem Männer. Und von diesen Männern, wie sie da stehen mit offenem Mantel, die Aktentasche ganz fest unten zwischen die Beine geklemmt, daß ihnen da keiner rankommt, die Krawatte baumelnd, die Lippen zurückgezogen, Zähne gefletscht, den Oberkörper leicht vorgebeugt, das Fett läuft tropfend am Handgelenk in den Ärmel, abbeißend jeder von seinem Riesenknacker, davon hätte ich gern ein Foto für den großen Konferenzraum. Seit Jahr und Tag liege ich immer mal wieder meinen fotografierenden Freundinnen in den Ohren. In Hamburg, in Köln, in Berlin, egal wo – dieser Mann mit seiner Wurst in der Mittagspause ist in jeder größeren Stadt anzutreffen. Aber keine Fotografin fotografiert mir den. Egal, ob sie lesbisch ist oder heterosexuell. Das verstehe ich nicht. Gesehen habe sie ihn schon alle: Wie er herbeistürzt auf dem Weg von irgendwoher nach irgendwohin. Er will weiter. Er ist um die dreißig und hat Pläne. Aber jetzt hat er Hunger. Er wirft den linken Arm hoch und einen Blick auf seine Uhr, gleitet mit der rechten Hand in die Hosentasche, findet Kleingeld und ruft seinen Wunsch in die Bude. Etwa: „Einen Riesenknacker, bitte!“ Dann wartet er, streicht sich durchs Haargel und blickt in die Runde, als sei er zuvor noch nie hier gewesen. Dabei kommt er fast jeden Mittag. Immer dann, wenn er nicht auf Spesen essen gehen kann. Selbstverständlich gibt es Unterschiede zwischen den Würstchen. Es gibt Rostbratwürste, Superriesenbratwürste und die langen, dünnen Wiener. Aber der Riesenknacker paßt besser zu ihm. „Mit oder ohne?“, fragt der Mann, dem alle Würstchen vorliegen. „Mit“, ist die Antwort. „Ganz oder soll ich ihn kleinmachen?“, fragt er, wenn es soweit ist und hat schon die Hand an der automatischen Wurstzerkleinerungsmaschine. „Nee, nee, ganz!“, sagt der Gast und hebt abwehrend die Hand.
Vor ein paar Jahren noch kam um diese Mittagsstunde eine Sekretärin aus dem benachbarten Bürohaus. Sie führte den Hund ihrer Chefin spazieren. Eine Langhaarzwergdackelhündin namens Sahara. Sie war kapriziös und hysterisch. Sie haßte es zu laufen, und sie haßte Männer. An der Leine geführt, schaffte sie es nie weiter als bis zur nächsten Würstchenbude. Dieser Würstchenbude. Hier hockte sie sich hin, krümmte ihren zierlichen Dackelrücken und starrte zufrieden in die Ferne, während die Sekretärin an der Leine die Männer beim Essen musterte. Aber seit Sahara tot ist, kommt die Sekretärin nicht mehr. Und ohne Sahara und ihre Sekretärin ist das Bild irgendwie unvollständig.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen