Sagenhaftes und Reales: Wie die Ratte nach Hameln kam
Eine Ratte ist erstmal eine Ratte. Doch der Mensch verteufelt und bewundert sie. Über die Geschichte einer Sage und die Stadt, die von ihr lebt.
Ratten führen Rattenleben. Sie kommen zur Welt, sie wachsen auf, sie spielen, sie schützen sich vor Feinden, sie fressen, viele von ihnen pflanzen sich fort, sie sterben. Dazwischen passiert je nach Ratte und Wohnort noch vieles andere. Doch eine Ratte ist erstmal eine Ratte.
Trotzdem haben wir Menschen ein besonderes Verhältnis zu diesen Tieren: Der Gedanke an sie ruft Ekel hervor, sie stehen für die Pest, für Verfall und Verwesung. „Das Bild, das wir von den Ratten haben, sagt mehr aus über uns als über die Tiere“, sagt Roland Borgards. Der Literaturwissenschaftler forscht auf dem Gebiet der Mensch-Tier-Beziehungen.
Als Kulturfolger begleitet uns die Ratte schon lange: Sie sucht die Nähe des Menschen, weil sie einen Nutzen daraus zieht. Wo der Mensch ist, ist Nahrung. Im Fall der Ratte, sagt Borgards, verweise diese Eigenschaft auf die Kehrseite der menschlichen Kultur: den Müll.
In den Städten ernährt sich die Ratte von dem, was der Mensch weggeworfen hat. Sie bewegt sich in der Kanalisation. Die Ratte stehe für die Schattenseite, das Verdrängte und Unbewusste: „Das ist eine starke Projektion.“
Die Schlaue
Während die Ratte in Europa bekämpft wird, sieht man sie in Asien positiv: Im chinesischen Tierkreiszeichen steht die Ratte für Intelligenz, Unabhängigkeit, Zielstrebigkeit. Der hinduistische Gott Ganesha reitet auf einer Ratte, die ebenfalls Intelligenz und Stärke verkörpert. Auch in Europa kennt man dieses Bild. Bei Experimenten mit Ratten etwa wird von ihrem Verhalten auf das der Menschen geschlossen. Die europäische Tradition wirft der Ratte ihre Intelligenz aber vor: Sie nutze ihre Schlauheit, um dem Menschen zu schaden. Alfred Brehm beschrieb Mitte des 19. Jahrhunderts in seinem „Thierleben“ Ratten als „abscheuliche Thiere“: „Sobald sie merken, daß der Mensch ihnen gegenüber ohnmächtig ist, nimmt ihre Frechheit in wahrhaft erstaunlicher Weise zu“.
Die einen sehen die Ratte als ein Symbol für Verwesung, Krieg, Ekel und List, die anderen für Intelligenz, Stärke und Ehrlichkeit. Kaum ein Tier bekommt gleichzeitig so positive und negative Eigenschaften zugeschrieben.
Das starke Bild, das wir von der Ratte haben, zeigt sich in vielen Büchern und Filmen. Bereits im Stummfilm „Nosferatu“ aus dem Jahr 1922 landen die Ratten und der Vampir an der Nordseeküste und bringen die Pest über die Stadt. In der Literatur gibt es etwa Günter Grass’ „Die Rättin“ und Gerhart Hauptmanns Theaterstück „Die Ratten“.
Die Sage
„Der Rattenfänger von Hameln“ ist die berühmteste Rattengeschichte. Dabei tauchen in der ursprünglichen Version gar keine Ratten auf.
Ein Lutheraner schrieb Mitte des 16. Jahrhunderts über die Entführung der Hamelner Kinder durch den Teufel, die sich 300 Jahre zuvor ereignet haben soll. Tatsächlich glauben manche Hamelner bis heute, dass im 13. Jahrhundert 130 Kinder verschwanden. „Reine Spekulation“, sagt der Literaturwissenschaftler Hans-Jörg Uther. Aber die Geschichte verbreitete sich schnell.
1577 legte dann der Arzt Johannes Weyer die Grundlage für die Sage, wie wir sie heute kennen: Demnach wütete in Hameln eine Rattenplage. Ein Fremder kam in die Stadt und bot gegen Lohn seine Hilfe an. Weyer gab ihm den Namen „Bundting“ wegen seiner bunten Kleidung.
In Griechenland hat Syriza die unangefochtene Macht. Sie sind oppositionelle Regierende, oder regierende Oppositionelle. Wie die neue Rolle die Partei prägt, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 27./28. Juni 2015. Außerdem: Ratten leben in unseren Kellern, Träumen und Büchern. Warum ekeln wir uns vor diesem Tier?. Und: Ausgerechnet in Hoyerswerda fliegt ein Molotowcocktail auf eine Turnhalle voller Flüchtlinge. Diese Stadt hat wohl gar nichts gelernt. Oder doch?. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Der Trick: Mit einer Pfeife lockte er die Ratten in die Weser. Die Hamelner brachen ihr Versprechen und bezahlten ihn nicht. Dafür rächte sich der Fremde. In Gestalt des Teufels entführte er 130 Hamelner Kinder mit seinem Flötenspiel.
Warum Ratten, warum in dieser Stadt? Das sei unklar, sagt Literaturwissenschaftler Uther. Schon immer habe es am Weserufer viel Getreide und Mühlen gegeben, also Nahrung für Ratten. Es könnte sein, dass Hameln im Mittelalter tatsächlich eine Rattenplage hatte. Eine weitere Erklärung: Wiederholungen sind ein typisches Motiv, das sich auch in anderen Sagen und Märchen finden lässt – erst die Ratten, dann die Kinder.
Und die Moral …
… von der Geschicht’, breche dein Versprechen nicht. Die ursprüngliche Version des Textes warnt vor allem vor dem Teufel und ermahnt die Eltern, auf ihre Kinder aufzupassen. Die Geschichte entstand zu einer Zeit, in der Geistliche das Ende der Welt predigten. Für die Hamelner im 16. Jahrhundert bedeutete das: Schon einmal hat der Teufel unsere Kinder geholt, er könnte es wieder tun.
Aber die Sage hat noch eine weitere Bedeutung, die Fremdenfeindlichkeit. Die Hamelner unterschätzten den Rattenfänger, weil er ein Fremder war. Sie glaubten nicht, dass er die Ratten vertreiben würde. Nur aus diesem Grund versprachen sie ihm Geld.
Der Rattenfänger mit Pfeife
Heute ist der Rattenfänger in Hameln wieder ein Fremder – er wird aber bezahlt. Er heißt Michael Boyer und kommt aus Pennsylvania. Kostümiert hat er sich schon immer gern. An der High School war er das Schulmaskottchen „The Ranger“, ein Fallensteller mit einem Hut aus Waschbärfell.
„Ich war unsportlich, und das war die einzige Möglichkeit, an die Cheerleader ranzukommen“, sagt Boyer. Nach der Schule ging er in die US-Army und war lange in Deutschland stationiert. Als vor zwanzig Jahren die erste Vollzeitstelle für einen Darsteller des Rattenfängers ausgeschrieben wurde, bekam Boyer den Job sofort.
Seitdem gibt er jeden Tag mehrere Stadtführungen. Heute ist die Rattensage weltweit bekannt. Als Christian Wulff noch Ministerpräsident in Niedersachsen war, begleitete Boyer ihn auf Auslandsreisen nach Finnland und Amerika. Neben Volkswagen ist Hameln eine Art niedersächsischer Exportschlager.
In der Stadt selbst ist Boyer ein Star. Wenn er durch Hameln läuft, wollen Jugendliche mit ihm ein Selfie machen. „Ey Alter, Respekt vor deiner Arbeit,“ sagen sie dann. Heute ist Boyer nicht mehr der einzige Rattenfängerdarsteller der Stadt: Er teilt sich den Job mit seinem erwachsenen Sohn.
Die Stadt
Hameln liegt rund 50 Kilometer südwestlich von Hannover. Die Stadt hat 56.000 Einwohner. Wie viele Ratten dort leben, weiß niemand. Doch in den Souvenirshops gibt es Tausende – aus Plüsch und Glas und Plastik. Sie stehen in den Regalen neben Rattenfänger-Badeenten, Rattengift-Schnaps und Ratten aus Salzteig. Am Weserufer steht eine knapp zehn Meter hohe Statue, die „tanzende Weserratte“. Jede Woche werden das Musical „Rats“ und das Rattenfänger-Freilichttheater aufgeführt. Kaum ein Fachwerkhaus oder ein Renaissancebau ohne Inschrift, die auf die Entführung der Kinder verweist.
Die offensive Vermarktung wurde 2014 belohnt: Die Rattenfängersage steht seitdem auf der nationalen Liste des Immateriellen Unesco-Weltkulturerbes. 2.500 Arbeitspätze hängen laut Tourismusamt vom Rattenfänger ab. Die Ratte ist damit Hamelns größter Arbeitgeber. Jedes Jahr kommen 4 Millionen Touristen in die Stadt, die meisten von ihnen sind deutsche Rentner. Die Hamelner leben gut von ihrer Sage. Nur eins bekommt man nicht gezeigt: eine echte, lebende Ratte. Dabei gibt es von ihnen mehr als genug.
Der Rattenfänger mit Gift
Der wahre Rattenfänger in der Stadt Hameln ist Ralf Schmidt. Er ist Geschäftsführer der „Schädlingsbekämpfung Klimasch“. Schmidt arbeitet nicht mit einer Flöte, sondern mit Gift und Blutverdünnungsmitteln. Außerdem ist Schmidt breiter aufgestellt als der sagenhafte Rattenfänger: Er bekämpft auch Mäuse und Marder.
Die Ratten machten allerdings den größten Teil der Arbeit aus, sagt Schmidt. Und es werden immer mehr: „Im letzten Jahr hatten wir einen deutlich größeren Befall.“ Vor allem in den Gärten gebe es mehr Ratten. Im Jahr 2014 hat Schmidts Firma zwischen 2.000 und 2.500 Rattenbefälle bekämpft. Was zieht die Ratten nach Hameln? „Wahrscheinlich liegt es an dem zunehmenden Maisanbau in der Region“, sagt Schmidt.
Getreide hatte den Ratten bereits vor 700 Jahren geschmeckt, als die Sage entstand – und sie fressen es noch heute.
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