■ Sachsen-Anhalt vor einer rot-grünen Minderheitsregierung: Überleben – eine Qualität an sich
Kaum eine Reformregierung wurde mit so viel Vorschußhäme und -anfeindung bedacht wie das rot- grüne Bündnis, das derzeit in Sachsen-Anhalt Gestalt annimmt. Unter dem historisch falschen Rubrum „Volksfront“ (gemeint ist Einheitsfront-Politik) wird zum Kampf gegen eine Koalition geblasen, die es schon schwer genug hätte, auch wenn die Bundesparteien in ihr nicht ein zentrales Wahlkampffeld entdeckt hätten.
Anhand der bislang gebräuchlichen Meßlatte rot- grüner Proporzarythmetik berechnet, ist die Besetzung nur eines Ministerpostens mit einer grünen Frau als Schwäche der Bündnisgrünen auszulegen. Eine Schwäche, die auch dadurch nicht kompensiert wird, daß nun allerorten in der Exekutive Frauenbeauftragte walten werden. Deren Wirkung, so die Erfahrung in anderen Bundesländern, tut keinem weh. Verpaßt wurde die Chance, mit einem veränderten Zuschnitt der Ressorts den Umweltschutz aus der Nische der kompensatorischen Maßnahme zu befreien und daraus ein strukturpolitisches Instrumentarium zu entwickeln. Industriepolitik ist bekanntlich die Achillesferse rot-grüner Landespolitik. Der Wiederaufbau Sachsen-Anhalts zu einem Standort der Chemieindustrie dürfte das rot-grüne Bündnis vor eine Zerreißprobe stellen.
Die Landesregierung wird wahlweise auf die Unterstützung der CDU oder der PDS angewiesen sein. Das erfordert Unabhängigkeit gegenüber den eigenen Parteien. Folglich sind beide Partner kaum daran interessiert, einen detaillierten Koalitionsvertrag zu entwerfen, der die Regierung da bindet, wo sie taktieren muß. Sollte die entscheidende Klippe der Ministerpräsidentenwahl geschafft sein, so das Koalitionskalkül, wird die CDU die Linie einer Fundamentalopposition nur um den Preis durchhalten können, bei der eigenen Klientel in den Ruch zu geraten, Politik aus ideologischen Gründen zu betreiben. Die PDS hat schon in ihrer kurzen Phase der Tolerierungsstrategie gemerkt, daß sie die SPD nur nageln kann, wenn sie sich selber bindet. Allein aus Gründen der politischen Selbsterhaltung ging sie wieder auf Distanz. Die SPD wird es ihr insgeheim gedankt haben und ein ganzes Stück geruhsamer auf die Zukunft mit dieser ungeliebten Hilfstruppe blicken. Denn die PDS wird zwar weiter Opposition spielen wollen, dabei jedoch vermeiden müssen, das vorzeitige Ende der Regierung herbeizuführen, will sie nicht einer Mitverantwortung dafür bezichtigt werden.
Berücksichtigt man diese Eckdaten, so ist bei der künftigen sachsen-anhaltinischen Koalition nicht gerade von einem rot-grünen Reformmodell zu sprechen. Zu erwarten ist vielmehr eine gegenüber den sie tragenden Parteien dominante Exekutive, die mit wenig eigenen Mitteln den Aufbau einer strukturschwachen Region zu bewerkstelligen hat. Das wird auch die bislang vorherrschende Vorstellung von einer rot- grünen Politik variieren. Sachsen-Anhalt ist erst mal nur die Chance einer Option auf Reformpolitik, die sich noch ihre gesellschaftliche Mehrheit suchen muß. Doch in Anbetracht der politischen Widerstände hiergegen gerät das Überleben der Regierung Höppner schon zur Qualität an sich. Dieter Rulff
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