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Sacharow übt Kritik an Reagan und Thatcher

■ In einem in der britischen Wochenzeitung „The Observer“ erschienenen Interview nimmt der nach Moskau zurückgekehrte Regimekritiker Stellung zu Gorbatschows Reformbemühungen, zur Zahl der politischen Gefangenen und zur Reaganschen Militärpolitik / Die taz veröffentlicht Auszüge aus Sacharows Erklärungen

Der Westen sollte Gorbatschow ermutigen und ihn gleichzeitig unter Druck setzen. Offenheit muß ein fundamentaler Bestandteil sowjetischer Politik werden, nicht einfach nur etwas Vorübergehendes oder reine Propaganda. Der Westen sollte auf Verbesserungen bestehen. Für einen ersten Schritt halte ich eine General–Amnestie für alle Gewissensgefangenen und die Aufhebung der Gesetze - besonders den Artikel 70 und Artikel 190 des Strafgesetzbuches, d. Red., die jegliche Kritik an den staatlichen Autoritäten untersa gen. Ich stimme mit Jurij Orlow Dissident, der 1986 aus der Haft in den Westen entlassen wurde, d. Red. überein, daß Reformen dieser Art, und nicht etwa die Reduzierung der Waffenarsenale, die beste Garantie für den Frieden bieten würden. Ich habe Orlows Erklärungen, seit er die Sowjetunion verlassen hat, gelesen und pflichte ihm bei. Nur denke ich, daß die von ihm zitierte Zahl von Gewissensgefangenen zu hoch gegriffen ist. Wir kennen die exakten Zahlen nicht, aber es lassen sich eine obere und eine untere Grenze festlegen. Die obere Grenze läßt sich aus der Zahl der Arbeitslager ableiten, das sind zwischen 1.000 und 1.500. Wir wissen, daß in fast allen dieser Lager die Zahl derjenigen, die unter Artikel 70 und 190 sowie Artikel 64 (Landesverrat) und Artikel 83 (Versuch der Grenzüberschreitung) fallen, zwischen zwei und null liegt. Das heißt, daß es nicht mehr als 3.000 Gewissensgefangene geben kann. Dies ist die Obergrenze, aber die wirkliche Anzahl, so glaube ich, liegt weit darunter. Die untere Grenze ist die Anzahl derer, deren Namen mir bekannt sind, das sind 300. Ich glaube, amnesty international kennt mehr, an die 600. Die richtigen Zahlen werden also zwischen diesen beiden Grenzwerten liegen, wahrscheinlich zwischen 1.000 und 2.000. Eine Philosophie für Extremisten Falls ich Mr. Reagan oder Mrs. Thatcher jemals treffen sollte, werde ich ihnen erklären, daß die Frage der Menschenrechte in der Sowjetunion für sie ebenso wichtig ist wie für uns. Ich glaube, im Westen gibt es einige, die der Meinung sind, daß Menschenrechte hier nicht von Bedeutung sind; daß, je schlechter die Lage für uns hier ist, es für sie im Westen desto besser sei, besonders weil die gegenwärtige Situation unsere Volkswirtschaft schädige. Dies ist falsch, denn wir befinden uns heute in einer Situation, in der wir zusammen leben oder zusammen sterben. Eine Philosophie, die sagt, „je schlechter es für die ist, um so besser ist es für uns“ habe ich immer abgelehnt, aber heutzutage ist das wirklich nur noch eine Philosophie für Extremisten, für die Roten Brigaden in Italien vielleicht, oder die Action Directe in Frankreich. Jedes vernünftige Staats oberhaupt wie Mrs. Thatcher oder Mr. Reagan muß sich einfach eine stabilere Welt wünschen. Und Teil einer solchen Stabilität ist eine offenere Sowjetgesellschaft. Sie wäre dann auch eine stabilere und eine ökonomisch erfolgreichere Sowjetunion; aber Mr. Reagan und Mrs. Thatcher sollten davor keine Angst haben. Ökonomischer und technischer Fortschritt in der Sowjetunion, als Resultat einer größeren Offenheit, ist für den Westen nicht gefährlich. Ein Land wird dann gefährlich, wenn es seine Dissidenten unterdrückt, wenn die Leute ohne guten Grund verhaftet werden. Mit anderen Worten, ich denke, es ist besser, neben einem starken und gesunden Mann zu wohnen als neben einem Kranken, selbst wenn diesen die Krankheit schwächt. Ein kranker Mensch ist unberechenbar. Ein Staat ist gefährlicher, wenn er nicht offen von den Bürgern, sondern im Geheimen von politischen Kräften regiert wird, die weder bekannt sind noch verstanden werden. So wissen wir beispielsweise bis heute nicht, von wem oder auf welcher Ebene, die Entscheidung über den Einmarsch in Afghanistan getroffen wurde. Je besser es uns also geht, desto besser wird es für den Westen sein, und desto friedlicher werden wir alle in unseren Betten schlafen. Hauptsächlich Worte von Gorbatschow Andere Elemente dieses „ersten Schrittes“ wären die Abschaffung der Todesstrafe und eine Reform des Strafrechts. Gegenwärtig sind unsere Gefängnisstrafen viel zu lang, ist die Situation in den Gefängnissen sehr schlecht und werden überhaupt viel zu viele Kriminelle ins Gefängnis gesteckt - obwohl das Gerede von „Millionen“ in unseren Gefängnissen eine Übertreibung darstellt. Dies ist ein anderer Grund, warum Fakten und Zahlen hierzulande veröffentlicht werden sollten: um solche Verzerrungen zu verhindern. Ein Artikel in der Literaturnaja Gaseta vor ein paar Tagen hat genau darauf hingewiesen. Die Dinge scheinen sich also zu bewegen. Im Augenblick allerdings sind es hauptsächlich nur Worte. Wenn sowjetische Repräsentanten zu Ihnen im Westen über die großen Veränderungen, die gerade stattfinden, reden, - ich weiß, daß sie dies tun - dann sollten Sie sagen: „Zeigt sie uns doch.“ Ich bin dafür, daß zukünftige Treffen zwischen den Führern von Ost und West von der Durchführung dieser Veränderungen, abhängig gemacht werden, sei es explizit oder implizit. Der Westen darf nichts ohne Gegenleistung weggeben. Dies ist keine Erpressung durch den Westen, sondern eine Hilfe für die progressiven Tendenzen in unserem Land, die gerade mit großen Schwierigkeiten versuchen, sich Geltung zu verschaffen. Wenn die Abrüstung das Thema Nr. 1 auf der Tagesordnung darstellt, eng mit den Menschenrechten verknüpft, dann sind die regionalen Konflikte Thema Nr. 2. Überall in der Welt treffen die Sowjetunion und der Westen aufeinander. Ich denke da an Südafrika, den Nahen Osten und Afghanistan. Die Sowjetunion muß sich unverzüglich aus Afghanistan zurückziehen, so daß es ein neutrales Land werden kann. Es müssen Maßnahmen ergriffen werden, die ein Massaker an denen, die mit der Sowjetunion kollaboriert haben, verhindern, aber die Priorität liegt bei dem sowjetischen Rückzug. Auch hier muß der Westen Druck ausüben. Dies kann Gorbatschow bei der Durchsetzung seiner Politik helfen. Übersetzung: Rolf Paasch

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