STREIT DER WOCHE: „Lasst Kindern ihre Unversehrtheit“
Kleinkindern Ohrlöcher zu stechen, ist Körperverletzung, sagt Ulrike Riedel vom Deutschen Ethikrat. Andere finden es übertrieben, dauernd nach dem Staat zu rufen.
BERLIN taz | Ihre ersten Ohrringe haben Blümchenform, innen sind sie dunkelblau, außen heller. Bald kann Jasmin Lang die medizinischen Ohrringe herausnehmen, denn die Siebenjährige hat ihre ersten Ohrlöcher schon vor sechs Wochen bekommen. Nach einer Frist von vier bis acht Wochen steht ihr das ganze Stecker-Repertoire offen, Herzchen, Kreolen, silber, gold. Dann kann Jasmin endlich bei ihren Freundinnen mitreden. Die haben sie vorher manchmal geärgert, weil sie noch keine Ohrringe hatte, wie sie in ihrem Beitrag für den Streit der Woche der sonntaz erzählt.
Bunte Stecker in kleinen Kinderohren: In Deutschland Alltag. Nur fragen viele gerade: Wünschen sich Drei-, Vier-, Fünfjährige Ohrringe wirklich selbst – oder sind es doch die Eltern?
Darauf kommt es gar nicht an, findet Ulrike Riedel, Mitglied des Deutschen Ethikrates. Wenn ein Mensch noch nicht abschätzen kann, was ein Eingriff für seine Gesundheit und sein Ansehen bedeutet, sei dieser Eingriff strafbar und dürfe nicht stattfinden, schreibt sie im Streit der Woche der sonntaz. "Ich bezweifle, dass das Ohrlochstechen dem Kindeswohl dient", sagt Riedel. "Eltern müssen abwarten, bis das Kind entscheidungsfähig ist, auch wenn es noch so quengelt."
Hintergrund der Debatte um Ohrlöcher für Kleinkinder ist ein Prozess vor dem Amtsgericht Berlin-Lichtenberg. Dort prüften Richter, ob sich die Eltern eines jungen Mädchens strafbar gemacht haben, weil sie ihm im Alter von drei Jahren Ohrlöcher stechen ließen und es dabei Komplikationen gab. Die Eltern hatten die Besitzerin des Piercingstudios verklagt. Auch ihre Verantwortung wird überprüft: Zwar endete der Zivilprozess vor dem Berliner Amtsgericht am Freitag mit einem Vergleich, die Inhaberin des Tattoo-Studios zahlt den Eltern siebzig Euro. Wahrscheinlich soll der Fall aber an die Staatsanwaltschaft übergeben werden.
Den kompletten Streit der Woche und viele spannende Texte lesen Sie in der sonntaz vom 1./2. September 2012. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und für Fans und Freunde: facebook.com/sonntaz.
Wirbel ist "übertrieben"
Emine Demirbüken-Wegner, CDU-Staatssekretärin für Gesundheit im Berliner Senat, hält den Wirbel um dem Prozess für "übertrieben". In ihrem Beitrag für die sonntaz schreibt sie: "Aus dem sogenannten Ohrlochprozess eine gesundheitspolitische Grundsatzdebatte zu stilisieren, halte ich für abwegig." Man müsse den Eltern schon ein Stück Verantwortung zugestehen, anstatt ständig nach dem Staat zu rufen.
Doch andere finden es problematisch, den Eltern die Entscheidung allein zu überlassen. Denn wer denkt bei einem kurzen Schuss durch das Ohrläppchen schon an die Folgen – daran, dass etwa wichtige Akupunkturpunkte im Ohr verletzt werden können? Für den Vorsitzenden der Ersten Organisation Professioneller Piercer, Linus Schütte, liegt die Toleranzgrenze für Ohrlöcher daher bei 14 Jahren – und nicht darunter. "Lasst Kindern ihre Unversehrtheit", schreibt er der sonntaz. Er fordert "ein gesetzliches Nein zu solchen Eingriffen an Menschen unter 14."
Jasmin Lang hätte also in Schüttes Studio keine Löcher bekommen. Sie sagt, sie habe selbst länger über die Ohrlöcher nachgedacht und sich jetzt dafür entschieden, um sich schön zu verkleiden und für Feste hübsch zu machen. Doch während Jasmin glaubt, sich bewusst entschieden zu haben, findet sie, dass noch jüngere Kinder keine Ohrringe bekommen sollten. "Die können das ja noch gar nicht selbst wollen", sagt sie. "Und das tut dann bestimmt auch mehr weh und wenn die Kinder älter sind und es ihnen dann nicht gefällt, streiten sie dann mit ihren Eltern."
Die sonntaz-Frage "Ohrlöcher für Kinder?" diskutieren außerdem Detlef Diepen, Arzt für Kinderheilkunde in Oldenburg, Susanne Philipp von der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NRW und Sven Piepkorn, der die Frage per Mail kommentiert hat – in der sonntaz vom 01./ 02.September. Die sonntaz gibt es auch im Wochenendabo.
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