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Archiv-Artikel

STADTGESPRÄCH AUS KIEW Keiner stirbt einfach so

Seltsame Selbstmorde von Vertretern des alten Janukowitsch-Regimes verunsichern die Ukraine

Als Natalija Tschetschetowa nachts nach ihrem Mann sehen wollte, fand sie lediglich seine Hausschuhe vor dem geöffneten Fenster in der 17. Etage und einen Abschiedsbrief: „Ich habe keine moralische Kraft mehr, um weiterzuleben. Ich gehe. Ich denke, das ist das Beste für alle. Vielen Dank für die Unterstützung.“ Die Polizei fand den Leichnam des Politikers Michail Tschetschetow später am Hauseingang.

Drei Wochen später erhitzen sich in der Ukraine die Gemüter an der Frage, ob Tschetschetow am 1. März freiwillig aus dem Fenster gesprungen ist oder ob er ermordet wurde. Der langjährige Abgeordnete war der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der „Partei der Regionen“ des ehemaligen Präsidenten Wiktor Janukowitsch im ukrainischen Parlament. Die Staatsanwaltschaft beschuldigt ihn, die Abstimmung des 16. Januar 2014 organisiert zu haben, als das Parlament während der Massenproteste auf dem Maidan eine Reihe von Freiheiten einschränkte. Am 20. Februar 2015 wurde gegen ihn ein Strafverfahren eingeleitet.

Tschetschetow ist der bekannteste hochrangige Politiker der Janukowitsch-Zeit, der in diesem Jahr auf rätselhafte Weise aus dem Leben geschieden ist, aber nicht der einzige. Seit Januar haben in der Ukraine zehn bekannte Persönlichkeiten in einer „Selbstmord-Epidemie“, so ukrainische Medien, einen gewaltsamen Tod gefunden.

Am 10. März erschoss sich der ehemalige Abgeordnete der „Partei der Regionen“, Stanislaw Melnik, mit einem Jagdgewehr. Nikolai Sergienko, von 2010 bis 2014 stellvertretender Chef der ukrainischen Eisenbahn, erschoss sich am 26. Januar ebenfalls mit einem Jagdgewehr. Drei Tage später fand man den 64-jährigen Alexei Kolesnik, von 2002 bis 2004 Stadtratschef von Charkiw, erhängt in seiner Wohnung.

Einen Monat darauf barg man den Leichnam von Sergei Walter. Der ehemalige Chef der „Partei der Regionen“ der Stadt Melitopol war ebenfalls erhängt aufgefunden worden, wenige Stunden vor einem Gerichtstermin. Walter war wegen Korruption und Bildung einer kriminellen Vereinigung angeklagt, ihm drohte eine Haftstrafe von 14 Jahren. Am 12. März fand man Alexander Pekluschenko tot in seiner Wohnung. Der ehemalige Gouverneur von Saporischja soll sich durch einen Schuss in den Hals das Leben genommen haben.

Weggefährten der Toten machen die amtierende Regierung für den Tod ihrer Genossen verantwortlich. Die „Partei der Regionen“ wirft den Machthabern vor, mit Michail Tschetschetow einen „schutzlosen politischen Rentner“ in den Tod getrieben zu haben. Andere jedoch vermuten die Drahtzieher der Selbstmorde eher im politischen Umfeld der Opfer. „Wir kennen doch genügend Beispiele aus der Geschichte, wo man sich mit angeblichen Selbstmorden Leute entledigt hat, die sehr viel wussten und die vielleicht auch noch andere hätten mit hineinziehen können“, kommentiert der Politologe Witali Bala.

Waleri Kur, langjähriger Leiter der Abteilung für organisiertes Verbrechen im ukrainischen Innenministerium, glaubt eher an die Selbstmordvariante. Ein Machtantritt eines neuen Regimes gehe in der Regel mit einer erhöhten Suizidrate des alten Regimes einher, meint er. „Die Leute haben begriffen, dass ihre Zeit gekommen ist und sie nun brutal bezahlen müssen. Sie wollen nicht, dass ihre Familien mit hineingezogen werden, ihren Angehörigen das gestohlene Geld und der gute Ruf genommen wird.“ Letztendlich sei das für alle von Vorteil: „Die ehemaligen Weggefährten brauchen keine Angst mehr zu haben, dass ihre Geheimnisse an die Öffentlichkeit kommen. Die neuen Machthaber müssen nicht befürchten, dass vielleicht mehr ans Licht kommt, als ihnen lieb ist. Und die Strafverfolgungsbehörden können mit dem Tod des Angeklagten einen Prozess ohne großes Aufsehen einstellen.“

BERNHARD CLASEN

AUS KIEW