: SPD will sozialen Spagat
Heilige Triade der Grundwerte und deutsche Einheit mit Terminkalender / Zum Leipziger Wahlprogramm unserer Sozialdemokratie ■ Von Olaf Thomsen
In Sicht auf eine ökologisch orientierte soziale Marktwirtschaft (warum nicht schon ÖOSM?) scheinen viele Wege nach Rom zu führen: gegen, mit und ohne Marx zu einer gesamtdeutschen Gesellschaft als Ensemble menschlicher Verhältnisse. Der kleine Unterschied allerdings bemißt sich nicht nur nach dem An- und Abstand gegenüber PDS und Staatsgefüge der Vergangenheit, sondern wesentlich auch daran, welchen Grad von Gelassenheit im Umgang mit den wahlpolitisch ausgebreiteten Terminkalendern der eine Wähler dem anderen zuzumuten bereit ist. Die Newcomer-SPD unseres pränatalen Einheitsdeutschlands gibt im Wahlprogramm ihren Fahrplan für ein „geordnetes Zusammenwachsen“ hin zu einer „freiheitlichen und solidarischen Gesellschaft“ der ökologisch und sozial verantwortbaren Zukunft an: Noch im März geben das Parlament drüben und das neu gewählte hüben eine „gemeinsame Erklärung zur Anerkennung der deutschen Grenzen zu ihren Nachbarn“ ab; der April bringt uns die Sechs-Staaten-Konferenz (mit Nachbarn), der Herbst den Zusammentritt einer KSZE-Konferenz. Ziel: eine „gesamteuropäische Sicherheitsordnung“, die „langfristig“ NATO und Warschauer Vertrag ersetzt. Nachdem das neue Parlament der DDR die von den Regierungen der Mitgliedstaaten des Europarates unterzeichnete Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom November 1950 anerkannt und sich feierlich zum „deutschen Bundesstaat“ entschlossen hat, wird im April mit der Arbeit am Vertragswerk zur deutschen Einheit begonnen. April und Mai bringen auch ein Gesetz zur Bildung der Länder wie auch die Bildung eines Rates zur deutschen Einheit, der paritätisch besetzt und unter Vorsitz Willy Brandts letztere bereits „verkörpert“, und der, obwohl ohne Gesetzesbefugnis, beratend hinzuzuziehen ist und ein „gemeinsames Grundgesetz“ erarbeitet - „ausgehend“ vom Grundgesetz der BRD (das zwar Arbeitszwang aus-, Recht auf Arbeit aber nicht einschließt). Der Aufbau der kommunalen Selbstverwaltung folgt dem 6. Mai; Landtagswahlen in fünf Ländern der DDR, die sich eine Verfassung geben, folgen im Sommer. Bevor die Wahl des gesamtdeutschen Parlaments erfolgt, stimmt das Volk über die Verfassung ab. Zum Tage des Zusammentritts des Deutschen Bundestages löst sich dieser auf - wie auch das Parlament der DDR.
Es bleibt nicht abzuwarten, wessen Verfassung sich in deutschen Landen dann wirklich zur Verfassung des ganzen Landes erklärt. Die SPD jedenfalls will sich für „funktionierenden Wettbewerb“ durch „striktes Wettbewerbsrecht“ als Gegenwind für ein „Entstehen monopolwirtschaftlicher Macht“ verbürgen, und das Programm bekennt sich gleichwohl zum Recht auf Arbeit(!) - ohne Garantie für „völlige Sicherheit des einzelnen Arbeitsplatzes“, jedoch für Arbeitslosenversicherung, Umschulungs- und Qualifizierungsmaßnahmen. Die SPD entschließt sich also zum sozialen Spagat, dessen immanente Widersprüche sie zumindest programmatisch auszuhalten gedenkt.
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