SPD-Programm: "Vager Mix von Ideen"
In ihrem Hamburger Programm versucht die SPD, Reformer und Traditionalisten zu vereinen, meint der Berliner Zeithistoriker Paul Nolte.
taz: Herr Nolte, im Hamburger SPD-Programm kommt wieder der "klassische" Sozialstaat vor. Ist das eine Wende nach links?
PAUL NOLTE, Jahrgang 1963, ist Professor für Zeitgeschichte an der FU Berlin und bezeichnet sich als "neokonservativ mit Sympathie für schwarz-grüne Bündnisse". Zuletzt erschienen von ihm "Riskante Moderne. Die Deutschen und der neue Kapitalismus" (2006) sowie "Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik" (2004). Darin plädiert Nolte für mehr Eigenverantwortung und eine neue Bürgerlichkeit.
Paul Nolte: Nein, gemessen an dem gültigen Berliner Programm von 1989 ist es bestimmt kein Linksruck, sondern ein Fortschritt. Das Berliner Programm war gefangen im Duktus der Zukunftsfurcht, zur Globalisierung fand sich gar nichts darin. Im Hamburger Programm ist eine Öffnung ins 21. Jahrhundert erkennbar. Es ist vergleichsweise visionär.
Welche Visionen entwickelt die SPD denn?
Die SPD sendet massiv rhetorische Signale, dass sie die Partei der Bürgergesellschaft sein will. Deshalb gibt es eine Fülle von Bezügen auf die Kirchen, soziale Bewegungen, globalisierungskritische Bewegung etc. Wie das praktisch umgesetzt wird, wie die SPD sich in eine Partei jenseits alternder Ortsvereine verwandeln will, bleibt aber vage.
SPD-Programme tendieren oft zum Grundsätzlichen, was dann nur wenig oder gar nichts mit dem Regierungshandeln zu tun hat. Ist das beim "Hamburger Programm" auch so?
Es ist kein Traumgespinst, das beim ersten Kontakt mit der Wirklichkeit kaputtgeht. Es ist allerdings etwas unklar, unentschieden, es lässt viel offen. Zum Beispiel bei der Sozialpolitik: Einerseits will man den "vorsorgenden Sozialstaat", andererseits aber auch den klassischen Sozialstaat erhalten. Einerseits will man eine Sozialpolitik, die sich am Bürgerstatus orientiert, was in Richtung Grundeinkommen geht. Aber im nächsten Satz steht, dass die paritätische Sozialversicherung die Grundlage des Sozialstaates bleibt. Es ist also ein Text, der gewissermaßen Steinbrück und Nahles, die Ideen von Reformer und Traditionalisten vereint, indem er sie einfach nebeneinander setzt.
Der Begriff "demokratischer Sozialismus", der zwischenzeitlich schon auf dem Müllhaufen der Parteigeschichte entsorgt zu sein schien, wird an prominenter Stelle erwähnt. Ist das kein Zeichen der Rückbesinnung auf Traditionen?
Bezeichnenderweise taucht der Begriff nur in der langen, 36-seitigen Fassung auf - nicht aber in den kurzen Versionen, mit denen die SPD Bürger und Medien anspricht. Es wäre konsequent gewesen, wenn die SPD ganz auf den Begriff verzichtet hätte.
Warum?
Der Begriff Sozialismus wird in dem Text vor dem sowjetischen Staatssozialismus gerettet. Da wird ein Verdacht ausgeräumt, den niemand hat. Die entscheidende Frage, was demokratischer Sozialismus in Zukunft sein könnte, bleibt hingegen völlig offen.
Die SPD hat seit der Agenda 2010 vor allem bei Arbeitern und Arbeitslosen verloren. Hat die SPD mit dem Hamburger Programm dieser Klientel etwas anzubieten?
Arbeiter und Arbeitslose muss man unterscheiden: Die SPD ist in der Arbeiterschaft durchaus noch verankert, wobei diese soziale Gruppe im Schwinden begriffen ist. Die Partei Die Linke hingegen versucht stark, Arbeitslose anzusprechen. Die SPD bietet dieser Klientel den Begriff der "guten Arbeit" an. Überraschend ist, dass die SPD sagt: Wir halten an der Arbeitsgesellschaft fest. Das war in dieser Eindeutigkeit nicht zu erwarten, weil die Debatten um das Ende der Arbeitsgesellschaft und das Grundeinkommen ja auch die Sozialdemokratie erreicht hatten.
Und nun glaubt die SPD wieder an die Vollbeschäftigung?
Offenbar. Im Programm steht eindeutig: Die Arbeit geht uns nicht aus. Und: Wir halten am Ziel der Vollbeschäftigung fest.
Die Aufstiegs- und Bildungschancen von Unterschichtskindern sind in Deutschland dramatisch schlecht. Daran ist ja auch die SPD als Regierungspartei nicht ganz unschuldig.
Bildung nimmt in dem Programm breiten Raum ein. Es wird auch viel Richtiges und Wünschenswertes beschrieben, allerdings sehr allgemein. Konkrete Ideen, etwa Migrantenkinder besonders zu fördern, fehlen. Die SPD könnte sich dabei das Konzept der "affirmative action" in den USA zum Modell nehmen.
Seit Schröders Agenda 2010 steht die Frage im Raum, wohin die SPD will. Die SPD hat diese Frage zu füllen versucht, indem sie bei Blair New Labour und Stichworte ausborgte und sich teilweise an Konzepten aus Skandinavien orientierte. Entwirft das Hamburger Programm nun eine originäre Identität der deutschen Sozialdemokratie?
Die SPD behauptet, dass dies das erste Programm in Europa ist, das sich den Zukunftsfragen stellt. Richtig ist, dass die SPD viel stärker programmatisch denkt als etwas die Union. Trotzdem erscheint mir diese Behauptung etwas kühn. Das Programm ist eine wenig ausgegorene Mixtur von Ideen. Ein bisschen Bildungsideen aus Skandinavien,plus klassischer Tranfersozialstaat. Für jeden etwas.
INTERVIEW: STEFAN REINECKE
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