SPD-GRUNDSATZPROGRAMM: AUCH DIE „NEUE MITTE“ IST TRADITIONELL: Paradoxe Werte
Im Rhythmus der Jahrzehnte macht sich die SPD ans Grundsatzprogramm. Diesmal wird u. a. das Konzept der Gerechtigkeit überarbeitet. Und an Zumutungen wird nicht gespart: So plädiert Wolfgang Clement für eine „vertretbare Ungleichheit“. Da er mitten im Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen steckt, lässt sich vermuten, dass er damit die Stimmung der Bevölkerung trifft. Zumal die CDU triumphierend herausstreicht, dass sie schon immer diese These vertreten habe. Also mal wieder Getümmel in der Mitte. „Neu“ bei der SPD, „bürgerlich“ bei der CDU. Die Volksparteien sind sich einig, das Volk anscheinend auch.
Einmal mehr könnte man also das Ende des „ideologischen Zeitalters“ vermuten. Jedenfalls hält Programmkommissar Rudolf Scharping den neuen SPD-Kurs für unideologisch. Und in der Tat scheint es so, als ob ganz pragmatisch Abschied genommen worden sei von einer der zentralen Vorstellungen, die uns seit der Französischen Revolution begleitet: dass Gerechtigkeit und Gleichheit sehr wesentlich miteinander zu tun haben. Aber stimmt dieser erste Eindruck einer Neuorientierung?
Wenn überhaupt, dann geschieht sie unfreiwillig. Denn sehr auffällig ist die SPD-Rhetorik des Sachzwangs: der ständige Rekurs auf die Globalisierung. Das Schlagwort wurde nicht weiter analysiert – doch das war auch nicht wichtig. Wichtig ist die Hilflosigkeit, die damit konnotiert wird. Leider, leider, wir können auch nichts dafür, wir werden zu schmerzhaften Reformen gedrängt. Genossen, ihr wisst schon: der weltweite Anpassungsdruck.
Doch abgesehen vom ewigen Sachzwang: Die neue Ungleichheit ist an eine zentrale Bedingung geknüpft. Die Bevölkerung ist nur dafür, weil sie sich angeblich lohnt. Wie auch Clement versprach, soll der neue Kurs zu Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum führen. Damit wird die Ungleichheit aber unversehens wieder zum Versprechen relativer Gleichheit. Denn wenn es eine kollektive Erinnerung gibt, dann diese: Es war das „Wirtschaftswunder“, das Deutschland zu einer satten und „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ werden ließ.
Solange die SPD ihr Versprechen auf neuen Wohlstand einlöst, wird es die Mehrheit nicht stören, dass es jetzt schon erkennbare Verlierer gibt – zum Beispiel jene, die mit der formalen Chancengleichheit wenig anfangen können, weil sie intellektuell oder persönlich dem Turbokapitalismus nicht gewachsen sind. Sollte sich aber der Verzicht auf Gleichheit für die meisten materiell nicht lohnen, dann werden SPD und CDU sehr schnell entdecken, wie traditionell die gesellschaftlichen Vorstellungen von Gerechtigkeit sind. ULRIKE HERRMANN
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