■ SPD-Chef Rudolf Scharping gelingt ein Befreiungsschlag: Ableben findet (vorerst) nicht statt
„Die Nachricht von unserem Ableben ist stark übertrieben“, zitierte Rudolf Scharping vorige Woche Mark Twain, als er auf die Lage der SPD und ihres Vorsitzenden angesprochen wurde. Zu diesem Zeitpunkt konnte die Deutung des SPD-Chefs nur als Zweckoptimismus abgetan werden. Das Hick-Hack um das Einwanderungsgesetz, der Rücktritt von Günter Verheugen als Bundesgeschäftsführer und nicht zuletzt die SPD-hausgemachte Diätendebatte ließen den durch das Sommertheater sowieso schon angeschlagenen Scharping sowohl in Meinungsumfragen als auch in den eigenen Reihen verdammt alt aussehen. Sein politisches Ende schien eingeleitet.
Seit gestern aber kann der Parteichef wieder Morgenluft schnuppern. Mit dem nordrhein-westfälischen Sozialminister Franz Müntefering als neuem Bundesgeschäftsführer hat Scharping Auftrieb bekommen – egal wie hoch die Wahlniederlage der SPD in Berlin ausfallen wird. Denn der sozialdemokratische Übervater und NRW-Ministerpräsident Johannes Rau ließe seinen Sozialminister und möglichen Nachfolger nicht ziehen, wenn er Scharping nach einem Desaster an der Spree in die Wüste schicken wollte. Folglich werden sich in der SPD zunächst auch jene zurückhalten, die schon ihr Köfferchen für Bonn gepackt hatten, um Scharping zu beerben. Mit dem sozialdemokratischen Urgestein Müntefering als neuem Bundesgeschäftsführer hat der Westerwälder aber nicht nur die Gunst von Rau zurückgewonnen. Er kann sich beim Parteitag auch der einflußreichen NRW-SPD sicher sein, die knapp 30 Prozent der Delegierten stellt.
Scharping hat einen Etappensieg erzielt. Um im Mark-Twain-Bild zu bleiben: Der Patient ist auf dem Weg der Besserung, aber vor einem Rückfall nicht gefeit. Selbst wenn es Scharping mit Münteferings Hilfe gelingt, daß Partei, Fraktion und SPD-geführte Bundesländer wieder stärker an einem Strang ziehen. Bisher gelang es dem Partei-Chef nicht, sozialdemokratische Reformprojekte pointiert und für die Wählerinnen und Wähler überzeugend darzustellen. Die schlichte Frage „Wieso soll ich SPD wählen?“ blieb unbeantwortet. Darauf muß Scharping in den nächsten Monaten eine klare Anwort geben. Inwieweit ihm das gelingt, wird sich bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Baden- Württemberg im März zeigen. Das ist das nächste schicksalsträchtige Datum für den Parteichef. Karin Nink
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