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SIEGER Vor 70 Jahren trafen sich die USA, Großbritannien und die Sowjetunion in Potsdam: Wie weiter mit Deutschland? Das haben wir auch die Enkel gefragtWir jungen Alliierten

Von Felix Zimmermann, Ulrich Gutmair (Gespräch) und Karsten Thielker (Fotos)

Potsdam, Schloss Cecilienhof, 17. Juli 1945. Die drei Siegermächte des Zweiten Weltkrieges beraten darüber, wie es weitergehen soll. Deutschland wird politisch und geografisch neu geordnet, das Land soll entnazifiziert werden, eine Demokratie aus Trümmern entstehen. Im Garten des Schlosses entsteht das Bild, das sich eingeprägt hat: Winston Churchill, Harry S. Truman und Josef Stalin auf Korbstühlen, milde lächelnd. 70 Jahre später haben wir zu einer Neuauflage der Potsdamer Konferenz geladen. Ryan Harper aus Großbritannien, Nataliya Schapeler, gebürtig in der Ukraine, als die noch Teil der Sowjetunion war, und die US-Amerikanerin Catherine Detrow. Sie leben in Deutschland, ihre Vorfahren waren am Zweiten Weltkrieg beteiligt. Was denken ihre Enkel über unser Land? Durch Reisegruppen hindurch schleppen die Teilnehmer der Potsdamer Konferenz 2015 Stühle in den Garten, um das berühmte Foto nachzustellen. Dass das Schloss gerade renoviert wird, passt vielleicht ganz gut. Ist nicht auch Deutschland in Europa gerade eine Baustelle?

taz.am wochenende: Erzählen Sie uns bitte, wie der Zweite Weltkrieg Ihre Familien betroffen hat.

Nataliya: Mein Großvater ist im Krieg gefallen – in Deutschland, wir wissen nicht, wo. Er war Dolmetscher. Mein Vater wuchs deshalb ohne Vater auf und wurde von den Großeltern erzogen, da die Mutter drei Kinder allein nicht versorgen konnte.

Catherine:Auch mein Großvater war im Krieg. Er ist am D-Day in der Normandie gelandet. Und ist gestorben, als ich sechs Jahre alt war. Meine Mutter hat mir gesagt, dass die Geschichten, die mein Opa vom Krieg erzählte, nicht dramatisch, sondern eher schön waren. Wie er französische Zigaretten rauchte, er liebte Gauloises; wie er mit den alliierten Truppen bei der Siegesparade über die Champs- Élysées marschierte; wie er bei einer französischen Familie wohnte und dass er ein bisschen Französisch gelernt hat. Leider ist mein Großvater früh gestorben. Deswegen konnte ich ihm keine Fragen stellen.

Ryan: Mein Großonkel, der Bruder meines Großvaters, ist 1944 in Berlin gefallen. Er war Feldwebel bei der Luftwaffe, Schütze in einem Bomber. Er hatte angeblich zuvor Berlin bombardiert. Ob sein Flugzeug abgestürzt ist oder abgeschossen wurde, wissen wir nicht. Darüber wurde gesprochen, wenn ich bei meinen Großeltern zu Besuch war. Als ich jünger war, dachte ich: Es gab Krieg, sie waren Soldaten, sie sind gestorben. Ich hatte keine emotionale Verbindung dazu.

Nataliya, Sie sind heute mit einem Deutschen verheiratet.

Nataliya: Ja, und auch bei ihm war es der Großvater, der im Krieg gefallen ist – in Russland als Soldat der deutschen Wehrmacht. Als ich geheiratet habe und die beiden Familien zusammenkamen, habe ich nicht erwartet, dass das zum Thema werden würde.

Potsdamer Konferenz 2015

Großbritannien: Ryan Harper wurde 1991 in Manchester geboren. Er studierte Germanistik an der Bangor-Universität in Wales. Ryan lebt seit September 2014 in Berlin und hat als Sprachassistent des British Council gearbeitet. Sein Großonkel fiel als Soldat der Royal Air Force in Berlin. Sein Grab liegt heute auf dem Friedhof für britische Soldaten an der Heerstraße. Ryan Harper war der Erste in seiner Familie, der es besucht hat.

UdSSR: Nataliya Schapeler wurde 1979 in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik geboren. 1995 kam sie erstmals nach Deutschland, später studierte sie in Kiew Germanistik. Sie ist mit einem Deutschen verheiratet, arbeitet als Politik- und Europawissenschaftlerin und lebt in Potsdam. Ihr Großvater fiel als Soldat der Roten Armee in Deutschland. Ihre Familie weiß nicht, wo genau.

USA: Catherine Detrow wurde 1988 in New Jersey, USA, geboren. Detrow kam mit 16 Jahren zum Schüleraustausch nach Deutschland und dann immer wieder. Seit drei Jahren lebt sie in Berlin. Sie macht ihren Master in Amerikanistik an der Humboldt-Universität. Ihr Großvater war in der US Army und landete am D-Day in der Normandie.

Warum?

Nataliya: Für mich selbst waren das bis dahin historische Tatsachen, nichts Emotionales. Ganz anders ist es für meine Schwiegermutter, die sich noch sehr genau an die Flucht aus dem Osten erinnert. Sie hat viel davon erzählt. Da wurde mir klar, wie sehr dieses Thema auch mein Leben bestimmt.

Sie sind 1979 in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik geboren. Wie wurde dort über den Zweiten Weltkrieg geredet, über Deutschland?

Nataliya: Deutschland wurde nicht unbedingt negativ dargestellt, aber es wurde ein starker Gegensatz zwischen Faschismus, Nationalsozialismus und der Sowjetunion als Bund der Völker und als Siegermacht betont. Die Rolle der anderen Alliierten und deren Beitrag wurde im Geschichtsunterricht außer acht gelassen. Als die Ukraine unabhängig wurde, erfuhren wir, dass die Sowjetunion den Molotow-Ribbentrop-Pakt geschlossen und den Osten Polens besetzt hatte. Für einen jungen Menschen war es sehr schwer zu verstehen, dass die Sowjetunion und Deutschland bis zum deutschen Angriff im Jahr 1941 Handelspartner gewesen waren. All diese Fakten sind bis heute noch nicht in dem Umfang aufgearbeitet worden, wie man sich das wünschen würde.

Ryan, welche Spuren hat der Zweite Weltkrieg in Großbritannien hinterlassen?

Ryan: Dass wir im Krieg mit Deutschland waren, ist ganz wesentlich für meine Identität. Uns Briten interessiert aber generell mehr der Erste Weltkrieg, „The Great War“. Er hatte eine größere Bedeutung für das Land – wegen der Anzahl der Menschen, die gefallen sind. Er hat auch größere Veränderungen gebracht: zum Beispiel das Wahlrecht für Frauen.

Wie wurde in der Familie Ihr Plan aufgenommen, Germanistik zu studieren?

Ryan: Als ich meiner Oma, die ungefähr neunzig ist, gesagt habe, ich will an der Universität Deutsch studieren, fragte sie: Wieso? Für sie waren und sind die Deutschen böse. Sie war als Kind in Manchester im Blitz. Ihr Vater hatte den Ersten Weltkrieg erlebt. Für unsere nationale Erinnerung aber ist der 11. November wichtiger. Da wird an den Waffenstillstand erinnert, und wir tragen alle Mohnblumen.

Damit wird den Schlachten des Ersten Weltkriegs gedacht.

Wie soll in diesem Land aus Trümmern eine Demokratie entstehen?

Ryan: „In Flanders fields the poppies blow“, so beginnt das berühmte Gedicht von John McCrae.

„Auf Flanderns Feldern blüht der Mohn“. Welche Rolle spielt der Zweite Weltkrieg für das Deutschlandbild in Großbritanien?

Ryan: In Großbritannien gibt es einen etwas giftigen Siegerkomplex. Es ist schwierig für uns zu begreifen, dass normale deutsche Männer und Frauen gestorben sind, und nicht alle Nazis waren.

Wie äußert sich dieser Siegerkomplex?

Ryan: Im Fußball zum Beispiel. Da gibt es etwa dieses Lied: „Two World Wars and One World Cup“, zwei Weltkriege und eine Weltmeisterschaft, die wir gewonnen haben gegen Deutschland. Oder: „There were ten German bombers in the air …“

„… and the RAF from England shot one down.“ So lange, bis kein deutscher Bomber mehr am Himmel ist.

Ryan: Diese Lieder werden bei Fußballspielen gegen Deutschland gesungen. Mir fällt das auf, weil ich Germanistik studiert und einen anderen Blick auf mein Land bekommen habe. Sonst würde ich vielleicht laut mitsingen.

Wie kamen Sie darauf, Ihr Leben mit Deutschland zu verbinden?

Ryan: Ich hatte einen hervorragenden Deutschlehrer im Gymnasium, der uns gelehrt hat, dass Deutsch eine Sprache und eine Kultur ist, die nicht nur aus Nazis und Bayern besteht. Wir haben vom Land der Dichter und Denker gehört, dass Deutschland viel mehr in die Welt gebracht hat als diese bitteren, grauenhaften zwölf Jahre.

Nataliya: Wenn man einen Studenten der Germanistik vor sich hat, egal woher er kommt, wird man die Formel „Land der Dichter und Denker“ hören.

„Land der Richter und Henker“, wie Karl Kraus 1908 schrieb. Wie haben Ihre Eltern reagiert, Nataliya und Catherine, als Sie erzählt haben, dass Sie nach Deutschland wollen?

Nataliya: Meine Oma sagte, wahrscheinlich kommst du nach deinem Opa, weil er im Zweiten Weltkrieg Dolmetscher war. Er konnte gut Deutsch. Ich dachte, dann ist meine Wahl auch richtig.

Das war eine positive Verbindung?

Nataliya: Ja. Sonst hat Deutsch nicht immer positive Reaktionen hervorgerufen, man kannte es – phonetisch – nur aus Filmen über den Krieg. Da gab es die typischen Sätze im militärischen Tonfall, „Hände hoch!“ Deutsch ist eine wunderschöne Sprache, ich musste auch meine Freunde davon überzeugen, ihre stereotype Vorstellung zu überdenken.

Wann waren Sie das erste Mal hier?

„Ich bemerke, dass hier das Wort ,Deutschland‘ gebraucht wird. Was bedeutet es jetzt? Kann man es in dem Sinne auffassen, wie es vor dem Krieg war?“Winston Churchill, britischer Premierminister, auf der Ersten Plenarsitzung der Potsdamer Konferenz

Nataliya: In der zehnten Klasse. 1996, kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion, reisten wir mit einer Tanzgruppe im Rahmen der Städtepartnerschaft nach Pullach. Eine wunderschöne deutsche Gemeinde, und bei uns hatte es kurz vorher einen Kollaps gegeben. Es war ein Kulturschock. Dass ich später Germanistik studiert habe, lag auch daran, dass wegen der DDR Deutsch eine der Fremdsprachen war, die man in der Schule lernte. In meiner Jahrgangsstufe gab es das Angebot Französisch oder Englisch nicht. Man hat zwar den Faschismus bekämpft, aber die deutsche Sprache, Goethe, Sturm und Drang bis zu Thomas Mann und Bertolt Brecht waren positiv besetzt.

Wie sind Ihnen die Menschen in Pullach begegnet?

Nataliya: Ich spürte großes Interesse an meinem Land. Die Pullacher waren sehr gastfreundlich, aber ich konnte nicht verstehen, woher man vorher die genaue Zahl der Gäste wissen soll, wenn man eine Party organisiert. Bei uns kocht man für 20 Gäste und wenn zehn mehr kommen, reicht das Essen trotzdem. Wenn in Deutschland ein Essen für zehn geplant wird, reicht es genau für zehn.

Catherine: Ich war in der zehnten Klasse, als ich mich für das Schüleraustauschprogramm mit Deutschland beworben habe. Wir lebten in einer kleineren Stadt, ich war so unglücklich, dass ich unbedingt weg wollte. Gerade wegen des Zweiten Weltkriegs gibt es viele Austauschprogramme im Namen des Friedens zwischen Deutschland und den USA. Alle fanden es toll, dass ich nach Deutschland ging. Ich wurde nur gefragt, was denn die deutsche Sprache bringen soll. Aber sonst fand man das cool.

Warum cool?

Catherine: Sie fanden es schön, dass ich so etwas für mich mache. Ich habe aber mehr über Deutschland gelernt, als ich mit zwanzig noch einmal einen Sommer in Berlin verbracht habe. Das war ein Programm des Deutschen Akademischen Austauschdiensts.

Als Sie Ihren Schüleraustausch machten, stand das für Sie im Zusammenhang einer Freundschaft zwischen ehemals verfeindeten Ländern?

Ist nicht auch Deutschland in Europa gerade eine Baustelle?

Catherine: Ja, das wurde uns gesagt, und das haben wir verstanden.

Hat die Erinnerung an Ihren Großvater eine Rolle gespielt, als Sie überlegten, wohin Sie gehen sollten?

Catherine: Nein. Vielleicht ist das auch ein Zeichen dafür, wie man die Geschichte über Generation hinweg verliert, wenn man nicht darüber spricht. Als ich nach Deutschland gegangen bin, dachte ich eher: Europa ist interessant, da fährt man Fahrrad und mit der Bahn, trägt keine Uniform und trinkt Bier. Hier kann man liberaler leben. Mit sechzehn haben Jugendliche hier mehr Freiheiten als in den USA. Bei meiner Ankunft fand ich Alltägliches interessant, wie die Frage, warum es in Deutschland Flaschenpfand gibt – und natürlich hat das auch mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun, dass man hier so viel Wert auf Pfand legt.

Sie waren damals in Leer, in Ostfriesland. Sie haben uns im Vorgespräch erzählt, dass Sie während des gesamten Jahres in Ihrer Gastfamilie nie über die Vergangenheit gesprochen haben. Weder die DDR noch der Zweite Weltkrieg wurden erwähnt.

Catherine: Mit mir wurde darüber nicht diskutiert, das stimmt, auch wenn ich ab und zu Fragen gestellt habe. Ich hatte Anstecker und einen Gürtel mit Stars and Stripes dabei, das fand meine Gastfamilie ganz lustig, aber auch ein bisschen unangenehm. Dann habe ich gefragt: Warum ist euch das unangenehm? Solche Fragen wurden nicht beantwortet.Sie fanden das unproduktiv.

Catherine: Ja. Wenn man nicht weiß, wie man mit einer Last aus der Vergangenheit umgehen soll, und das nicht im Alltag diskutiert, wird das Problem für die kommenden Generationen immer größer. Neulich sprachen wir an der Uni über das Thema Race. Darüber, dass man auf Deutsch den Begriff Rasse nicht mehr benutzt. Aber dass es kein Konzept mehr gibt für das, was man auf Englisch Race nennt, führt zu einer unrealistischen Beschreibung. Zu sagen, man sei ein Volk und alle würden dieselbe Sprache sprechen, ist unrealistisch im heutigen Deutschland, wo es Menschen aus verschiedenen Ländern, Ethnicities und Races gibt. Wenn man nicht weiß, wie man mit diesen Themen umgehen kann, weiß man nicht, wie man ein Bild von Deutschland in der Zukunft entwerfen kann.

Nataliya: Da muss ich widersprechen. Für mich ist völlig fremd, was Sie gerade gesagt haben. Ich bin seit neun Jahren in Deutschland. Mein Eindruck von diesem Land ist: Es gibt kein Tabu. Was die Aufarbeitung der Geschichte betrifft, ist Deutschland ein Vorbild in Europa. Ich bin nirgendwo auf Schweigen gestoßen, sondern auf ein Fachwissen, das man von Leuten aus ganz unterschiedlichen Bereichen nicht erwarten würde. In der Schule lernt man gründlich über die Nazizeit, den Zweiten Weltkrieg, über die Grausamkeiten und auch über die Verantwortung, die man übernehmen soll. Wenn Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion so viel Verantwortung für die eigene Vergangenheit übernehmen würde wie Deutschland, dann hätten wir vielleicht weniger Probleme.

Catherine: Aber was heißt Verantwortung genau?

Nataliya: Dass man die historischen Tatsachen offen darlegt, dass die Archive zugänglich sind. Die Entnazifizierung wurde gemäß der Potsdamer Konferenz umgesetzt. Entsowjetisierung hat in den entsprechenden Ländern dagegen nie stattgefunden. In der Ukraine hat man jetzt wenigstens per Gesetz die Archive geöffnet, so dass man nachlesen kann, was geschah. Deutschland hat Reparationen bezahlt und erhält die ehemaligen Konzentrationslager als Erinnerungsorte. All das ist Verantwortung.

Catherine: Sie vergleichen Deutschland mit der Sowjetunion, aber ich komme aus den USA.

Nataliya: Geschichte ist sehr subjektiv, Erinnerungskultur auch. Und jedes Land hat seinen Blick auf die Geschichte.

Wie war das bei Ihnen früher?

„Deutschland ist das, was es nach dem Kriege geworden ist. Ein anderes Deutschland gibt es heute nicht. So verstehe ich diese Frage“Josef Stalin, sowjetischer Generalissimus, als Antwort auf Churchill

Nataliya: Es gibt im Russischen den Satz: „Wichtig ist, dass kein Krieg mehr kommt.“ Ich bin mit diesem Satz aufgewachsen. Deswegen ist es für mich so überraschend, dass in Russland der Krieg gegen die Ukraine fast befürwortet wird, woran man erkennt, was Propaganda bewirken kann. Stalin hat den 9. Mai, an dem Deutschland die Kapitulationserklärung unterzeichnet hat, als Gedenktag eingeführt; er wurde aber 20 Jahre lang nicht gefeiert, weil das Land so ruiniert war. Die Straßen der Großstädte waren voller Invaliden, jede zweite Familie hatte jemanden verloren. Erst ab 1965, unter Leonid Breschnew, wurde der Tag mit pompösen Paraden begangen.

Catherine: Der Satz „Wichtig ist, dass kein Krieg mehr kommt“, wie war der gemeint? War das ein Appell für die Zukunft?

Nataliya: Es war ein Satz voller Trauer, weil sich alle erinnerten, was der Krieg in den Familien verursacht hat.

Es ging um die Erinnerung an die vielen Opfer.

Nataliya: Um die Soldaten, um die zivilen Opfer. Man dachte auch an die Menschen, die nach Deutschland zur Zwangsarbeit verschleppt worden waren. Allein in der Ukraine starben zehn Millionen Menschen während des Krieges, sie hat als Territorium besonders gelitten.

Catherine: Dieser Satz „Wichtig ist, dass kein Krieg mehr kommt“: Spielt er eine Rolle in Deutschland? Wenn es dazu kommt, dass Deutschland einen anderen, völlig neuen Krieg woanders unterstützt, zum Beispiel in Israel/Palästina, wie weit kann die Verantwortung dann gehen? Ich denke da an Hannah Ahrendts „Banalität des Bösen“. Kann man heute von der Banalität der Verantwortung reden? Wie ernsthaft ist dieser Satz gemeint, wenn wir Israel so unterstützen, als Zeichen der Anerkennung einer Schuld?

„Wir in Großbritan­nien haben diesen etwas giftigen Siegerkomplex, auch aus dem Ersten Weltkrieg“

Ryan Harper, Brite

Nataliya: Sie haben den Satz, den ich zitiert habe und der sich auf die Länder der ehemaligen Sowjetunion bezog, auf Deutschland angewendet. Das ist nicht sein Kontext.

Catherine: Gut, aber was heißt es, wenn ein Land zwei Weltkriege verursacht hat, wie geht es damit um?

Ryan: Deutschland ist heute drittgrößter Waffenlieferant weltweit. Wo zeigen sich die Spuren vom Zweiten Weltkrieg jetzt, wie agiert heute die Politik? Das sind die Fragen, die mich persönlich 70 Jahre danach beschäftigen.

Für uns als Deutsche ist es gut nachvollziehbar, was Nataliya gesagt hat: Nie wieder Krieg. Diese Parole, die es seit 1945 gibt, hat zu einem starken Pazifismus in Deutschland geführt. Gerhard Schröder konnte noch 2001 eine Wahl gewinnen, indem er sagte: Mit mir geht es nicht in den Irak.

Nataliya: Die Ukraine war einer der Hauptkriegsschauplätze des Zweiten Weltkriegs. Und jetzt, wo wir hier sitzen, herrscht dort wieder Krieg. Deswegen gilt der Spruch nicht mehr. Ich frage mich, wie sich die Situation weiterentwickeln wird, wie die Politik in Europa reagieren wird. Der Historiker Timothy Snyder hat das treffend formuliert: Die einen lernen aus der Geschichte, die anderen ziehen daraus ihre praktischen Lehren. Das finde ich sehr bedrohlich.

Wie wird der 9. Mai heute begangen in Putins Russland?

Nataliya: Trotz der pompösen Paraden war es früher kein Tag, an dem nur gefeiert wurde. Man hat an die Toten erinnert und diejenigen verehrt, die diesen Sieg möglich gemacht haben. Bei der letzten Parade in Moskau aber konnte man sehen, wie dieser Tag zu einer Farce gemacht wurde. Die Kinder wurden in Uniformen gekleidet, Menschen zogen als deutsche Kriegsgefangene durch die Straßen.

Ryan, Sie waren der Erste aus Ihrer Familie, der in Berlin das Grab Ihres Großonkels gesehen hat.

Ryan: Ich hatte schon mehrere Gräber mit der Schule besucht, auch diese ganz großen, für tausend Soldaten. Aber so ein gemütliches Grab, gepflegt, in der Heerstraße, wo die Blätter herumliegen, das hat mich betroffen gemacht. Ich tat es für meinen Opa. Ich glaube, es war sein Leben lang schwer für ihn, dass er seinen Bruder nie wiedergesehen hat. Mein Opa ist mit 72 gestorben. Er selbst hat nicht gedient, er war zu jung und wurde evakuiert. Mein Onkel hat zwei Bilder aufgehängt, eines ist das Porträt meines Großonkels in seiner Fliegeruniform. Auf dem anderen sieht man ihn mit seiner Besatzung in einer Hütte an der Air Base. Ich habe mich oft gefragt, was mein Großonkel dazu gesagt hätte, dass ich Deutsch studiere und in Berlin lebe.

Ryan, Sie tragen heute Manschettenknöpfe in den Farben der britischen Flagge. Sähe man einen Deutschen so, würde man ihn skeptisch beäugen.

„Es hat im Jahre 1945 alles verloren, Deutschland besteht heute faktisch nicht“Harry S. Truman, US-Präsident, als Antwort auf seine beiden Vorredner

Ryan: Aber warum? Ein bisschen Nationalstolz – wo ist das Problem? Dass die deutsche Fahne seit 2006 selbstverständlicher gezeigt wird, finde ich total normal.

Catherine, gehen wir noch einmal nach Ostfriesland zurück, wo Sie vor elf Jahren dieses Schweigen erfahren haben. Sind die Deutschen jetzt offener geworden?

Catherine: Sehr, aber auch ich habe mich verändert. Ich kann meine Fragen jetzt klarer stellen und kritischer – auch gegenüber meinen deutschen Kollegen und Professoren. Auch in meinem Freundeskreis mit vielen deutschen Freunden ist das jetzt ganz anders.

Sie sind nach Berlin gekommen, um hier Amerikanistik zu studieren. Warum?

Catherine: Das fragen viele. Ich studiere Amerikanistik aus einer anderen Perspektive, damit ich meine Meinung als Amerikanerin, die seit elf Jahren in Deutschland lebt, weiterentwickeln kann. Amerika ist so ein riesiges Land, ich glaube, es ist wichtig, dass man ein paar Schritte zurücktritt, ein paar tausend Kilometer herüberfliegt, um dann seine eigene Identität infrage zu stellen.

„Entsowjetisierung hat in den entsprechenden Ländern nie stattgefunden“

Nataliya Schapeler, Ukrainerin

Wir sollten noch über Angela Merkel sprechen. Ein Wort zur Kanzlerin?

Nataliya: Queen Angie.

Catherine: Es gab einen tollen Artikel über Merkel im New Yorker.

Darin beschreibt George Packer eine der „mächtigsten Frauen der Welt, die alles tut, um nicht interessant zu sein“.

Catherine: Was ich daran besonders interessant fand, waren diese Bilder. Fotos, die ein Fotograf über Jahre hinweg von ihr gemacht hat.

Es war eine Fotografin. Für ihre Serie „Spuren der Macht“ hat Herlinde Koelbl mehrere Politiker porträtiert.

Catherine: Zu Merkel kann ich nur sagen, ich hätte gern ein Foto von ihr als junge Frau an meiner Wand zu Hause. Sie sah so jung und frisch aus. Ich konnte sie mir nie als junge Frau vorstellen. Und sie hatte coole Haare.

Nataliya: Und was hat die Politik aus ihr gemacht?

Was damals geschah

Der Ort: Die Potsdamer Kon­ferenz fand vom 17. Juli bis 2. August 1945 im Potsdamer Schloss Cecilienhof statt. Der Ort wurde wegen der schweren Kriegsschäden in Berlin gewählt.

Die Konferenz: Nach dem Ende der Kampfhandlungen in Europa trafen sich die UdSSR, die USA und Großbritannien zur Dreimächtekonferenz von Berlin, so der offizielle Name, um über Deutschlands Zukunft zu beraten.

Die Teilnehmer: US-Präsident Harry S. Truman und sein Außenminister James F. Byrnes, Josef Stalin und sein Außenminister Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow sowie der britische Premierminister Winston Churchill und sein Außenminister Anthony Eden. Nach Churchills Wahlniederlage bei den ­Unterhauswahlen vertraten ab 28. Juli Premier Clement Attlee und sein Außenminister Ernest Bevin Großbritannien.

Das Ergebnis: Die im Potsdamer Abkommen festgehaltenen politischen Grundsätze für die Besetzung des Deutschen Reichs und die Arbeit des Alliierten Kontrollrats umfassten Denazifizierung, Demilitarisierung, Demokratisierung, Dezentralisierung und Demontage. Mit Letzterer sind Reparations-leistungen gemeint.

Catherine: Sehr viel, einen ganz anderen Menschen.

Nataliya: Ich finde Merkel brillant. Ich darf übrigens nicht wählen in Deutschland, das ist eine Diskriminierung. Dafür sage ich meinem Mann, wen er wählen soll.

Und?

Nataliya: Merkel.

„Ich hatte Anstecker mit Stars and Stripes, das fand meine ­deutsche Gastfamilie unangenehm“

Catherine Detrow, US-Amerikanerin

Wen hätte Ihr Mann gewählt?

Nataliya: Das tut nichts zur Sache. Es wird bei uns für Merkel gestimmt. Das ist ukrainischer Feminismus.

Und Sie, Ryan, wie finden Sie Angela Merkel?

Ryan: A woman of the world. Hätte ich früher gesagt. Seitdem ich aber weiß, wie verdruckst ihre Haltung zur Homo-Ehe ist, fällt es mir schwer, sie so großzügig zu loben. Ich durchschaue sie nicht.

Catherine: Ich auch nicht.

Jetzt gerade wird viel über Deutschlands Rolle in der EU diskutiert. Griechenland wird von Merkel und Schäuble zum Sparen gezwungen. Wie bewerten Sie das?

Nataliya: Deutschland hat in dieser Situation eine führende Rolle in der EU übernommen. Das ist für mich der Beweis dafür, dass das europäische Projekt für Deutschland und Angela Merkel persönlich zu viel bedeutet, um den anderen zu erlauben, die EU in ein Kasino, in dem Poker ein Lieblingsspiel ist, zu verwandeln.

Müsste Deutschland nicht gnädiger sein aufgrund eigener Erfahrung?

Ryan: Von mir aus überhaupt nicht. Regeln, die hätten eingehalten werden sollen, wurden zumeist ignoriert. Viele deutsche Steuerzahler wollen aber nicht über den Tisch gezogen werden. Da die Bundeskanzlerin Mutti genannt wird, beweist es, dass sie ganz viel für ihr Land unternimmt und versucht.

Stalin, Truman und Churchill – bis er durch Clement Attlee ersetzt wurde – haben sich im Schloss Cecilienhof gefragt, was aus Deutschland werden soll. Was sagen Sie heute?

Ryan: Die Generation Merkel wurde von ihrer Familiengeschichte geprägt. Egal, was die Vorfahren gemacht haben: Die Deutschen verknüpfen ihr Selbstbild stark mit der Vergangenheit. In Großbritannien handeln die Menschen immer noch in dem Bewusstsein, Indien zu besitzen. Ich bin gespannt, was sich ändert, wenn eine Generation in die Politik eintritt, die anders geprägt wurde.

Felix Zimmermann,41, ist Leiter der taz.am wochenende. Er wird eines Tages das Grab seines Großvaters nahe Schitomir in der Ukraine suchen

Ulrich Gutmair,47, ist Redakteur der taz.am wochenende. Er ist froh, die Gräber seiner Großväter in Bayern zu kennen

Karsten Thielker,49, ist freier Fotograf und ehemaliger Kriegsfotograf. Er findet Kriege verachtenswert. Das fanden seine Großväter auch

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