SEITENBLICKE: Berliner Wetter
■ Der Briefwechsel von Pauline Wiesel und Rahel Varnhagen
Während von Tage zu Tage das Unkraut im Garten der Poesie üppiger wuchert, blühen doch auch hier und dort darin die schönsten Blumen. Aber wer hat, oder wer nimmt sich die Zeit, den weitläufigen Raum auf das Gerathewohl zu durchwandern, um nach seltenen Gewächsen zu spüren, und so — ehe die Kunde davon sich verbreitet — sind sie schon verblüht; mit andern Worten, ist ein neues Jahr erschienen, das mit breitem Strome die Novitäten aus den Buchläden wegspühlt, um Novissimis Platz zu machen und jene unabwendbar der ewigen Lethe zuzuführen.« Mit diesen Sätzen begann Julius Eduard Hitzig im Oktober 1824 in der Spenerschen Zeitung seinen Gründungsaufruf zu einem literarischen Verein. Seine Mitglieder sollten sich einmal die Woche versammeln, um einander »das neueste aus der poetischen Literatur durch Vorlesung (...) zur Kenntnis zu bringen«. Daran wollen wir anschließen. In loser Folge werden unsere Autoren in den Seitenblicken »Zeugnisse der Poesie und Literatur« und Sachbücher vorstellen, die aus Berlin kommen, hier statthaben, von Berlin handeln. Wir beginnen mit einem »seltenen Gewächs«, einer Sammlung von Briefen, die zwei gebürtige Berlinerinnen einander schickten...
Im Februar 1822 schreibt Pauline an ihre »liebe Herzens-Ralle«, Rahel Varnhagen: »Ich war weich, mein Herz liebend, und die Welt, die Menschen drückten mich, ein Jeder machte seine Frau aus mir wie er sie liebte und verlangte, ich ließ mich machen, ohne die Kraft zu haben, mich selbst zu stellen und zu handeln (...), man kann nichts ändern.« Anderthalb Jahrzehnte zuvor war Paulines leidenschaftlicher Liebhaber, der preußische Prinz Louis Ferdinand, im Krieg gegen die Franzosen gefallen; sein Tod bedeutete für die damals 26jährige verheiratete Frau praktisch die gesellschaftliche Ächtung. Um nicht als Ehebrecherin geschmäht zu werden, wich sie ins Ausland aus, nach Frankreich und in die Schweiz; 1848 starb sie bei Paris.
Wie ein roter Faden zieht sich das Thema der Fremdbestimmung durch den Briefwechsel der »Seelenschwestern« Pauline und Rahel. In unterschiedlicher Form führen beide bewußt ein Leben als Randexistenzen: Rahel als Jüdin in einer deutsch-romantischen Umgebung, Pauline als Frau, die auf das Glück einer frei gewählten Liebe nicht verzichten wollte. Rahel schreibt im März 1810: »Und auf verschiedenem Wege sind wir zu einem Punkt gelangt. Wir sind neben der menschlichen Gesellschaft. Für uns ist kein Platz, kein Amt, kein eitler Titel da! (...) Und somit sind wir ausgeschlossen aus der Gesellschaft, Sie, weil sie beleidigten. (Ich gratuliere Ihnen dazu! so hatten Sie doch etwas; viele Tage der Lust!) Ich, weil ich nicht mit ihr sündigen und lügen kann.«
Solches »Pariabewußtsein« (Elisabeth Lenk in ihrem begleitenden Essay) sensibilisiert für die monströsen Alltäglichkeiten der Mitmenschen; Rahel klagt über die »Dummheit, Leerheit, Pedanterie, Frömmelei« ihrer Berliner Gesellschaftskreise, und wenn Pauline ihren neuen Ehemann schildert, erwidert sie fröhlich die Arroganz, mit der sonst Männer über Frauen schreiben: »Es ist mir selbst ein Räthsel, den Mann gefunden zu haben; er ist fünfundvierzig Jahr, schön, groß, und im Uebrigen unbedeutend, keine Fehler, keinen großen Verstand, nichts, aber gutmüthig, und ich führe ihn wie ein Kind.«
Nicht aber von Männern, sondern von den »wahren Realitäten« des Lebens handeln diese Briefe, von Musik, Freundschaft, vom Lesen und vom Wetter. Und nichts könnte freundlicher und bestimmter den Zustand der Welt zeigen als Rahels wunderbare Berliner Wetterberichte, so der 22. Februar 1831: »Abgethautes, und abgetrocknetes Märzwetter, halb dunkel, halb hell, manchmal Kiekelsonne; Westwind: ich gehe gar nicht aus, fahre auch seltenst, wegen Husten und Brustinkommodität.« — Wie empfiehlt man charmanter ein gutes Buch als Pauline Wiesel? Im Januar 1817 rät sie ihrer Berliner Freundin: »Kurz, Liebe, schaffen Sie sich das Buch an, es gefällt Ihnen gewiß; wenn Sie es nicht haben können, so gebe ich Ihnen meines.« Meines aber werde ich sicher behalten. Hans-Joachim Neubauer
Pauline Wiesel, Rahel Varnhagen: Briefwechsel 1808-1832. Berlin, Edition Sirene, 173 Seiten, 21 DM.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen