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SCHULREFORMENGroßer Streit über kleine Sitzenbleiber

Immer mehr GrundschülerInnen müssen die dritte Klasse wiederholen. Schuld daran sei die jahrgangsübergreifende Schuleingangsphase, meinen Kritiker

Nicht für die Schule schleppen sie, sondern fürs Leben Bild: ap

Das Konzept des jahrgangsübergreifenden Lernens in den ersten zwei Klassen der Berliner Grundschulen gerät erneut in die Kritik. Aktueller Anlass ist die Antwort der Schulverwaltung auf eine Anfrage des bildungspolitischen Sprechers der Grünen, Özcan Mutlu. Danach hat sich die Zahl der Kinder, die das dritte Schuljahr wiederholen müssen, in den vergangenen Jahren mehr als verdoppelt. Die Zahl stieg von 230 im Schuljahr 2007/08 auf 518 im Schuljahr 2009/10. Selbst Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) äußerte Besorgnis: Das Ergebnis des jahrgangsübergreifenden Lernens entspreche nicht seinen Erwartungen, so Zöllner.

Die "exorbitant hohen" Sitzenbleiberzahlen seien ein Beleg dafür, dass "der Zwang zum jahrgangsübergreifenden Lernen gescheitert" sei, meint CDU-Bildungspolitiker Steuer. Die jahrgangsübergreifende Schulanfangsphase solle nur auf deren freiwilligen Wunsch von Schulen eingeführt werden.

Auch die bildungspolitische Sprecherin der FDP-Fraktion Mieke Senftleben plädiert dafür, Schulen selbst entscheiden zu lassen, ob sie das jahrgangsübergreifende Lernen (JÜL) einführen wollen. Sie fordert zudem eine Evaluierung von JÜL. Die Einführung der jahrgangsübergreifenden Schulanfangsphase (SAPH) wurde in einer Änderung des Berliner Schulgesetzes 2004 festgelegt. Im vergangenen Schuljahr hatten 262 der insgesamt 370 Berliner Grundschulen die SAPH eingeführt. Damit einher ging die Abschaffung des Vorschuljahres sowie eine Herabsetzung des Alters bei der Einschulung. Auch Fünfeinhalbjährige gehören seither zu den Schulanfängern. Zudem wurde die Möglichkeit, als nicht schulreif eingeschätzte Kinder von der Einschulung zurückstellen zu lassen, abgeschafft.

Schon seit der Einführung von SAPH hatten Schulen Kritik an der Unterrichtsform geäußert. Im Mittelpunkt stand dabei vor allem der Zwang bei der Einführung sowie die Personalausstattung, die insbesondere für Schulen in sozialen Brennpunkten nicht ausreichend sei: "Eigentlich muss man dafür zwei Lehrer in der Klasse haben", sagte bei der SAPH-Einführung etwa der damalige Vorsitzende des Berliner Schulleiterverbands und Grundschulleiter Erhard Laube der taz.

Inge Hirschmann, Vorsitzende des Berliner Grundschulverbands und Leiterin einer Kreuzberger Grundschule, rät heute, "nicht so schnell auf JÜL zu schießen". Um die tatsächlichen Ursachen für die steigende Zahl von Klassenwiederholungen benennen zu können, so Hirschmann, müssten noch viele Fragen beantwortet werden. Etwa an welchen Schulen Kinder sitzenbleiben und es ob es sich dabei tatsächlich um die handelt, die das jahrgangsübergreifende Lernen nicht freiwillig eingeführt haben. Oder ob unter den scheiternden Kindern vor allem die früher eingeschulten seien. "Die hohe Zahl von Migranten unter den Wiederholern weckt den Verdacht, dass das Konzept vor allem in Schulen in sozial schwachen Gegenden Probleme hat", so die Grundschulleiterin. Das spreche nicht grundsätzlich gegen JÜL, so Hirschmann, aber zu klären sei dann: "Was brauchen diese Schulen, damit es auch bei ihnen funktioniert?" Hirschmanns Forderung: Mehr Unterstützung und mehr personelle Ressourcen für die Förderung der heterogenen SchulanfängerInnen.

Ihr oberster Dienstherr sendet andere Signale: Er setze auf Weiterbildung und Gespräche mit den LehrerInnen, so Zöllner.

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3 Kommentare

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  • V
    Victor

    Es gibt eine Frage, das hier nicht beantwortet wird: Sind ein Grossteil der Sitzenbleiber die Jüngste in der Klassen?

     

    Wenn du in der 2. klasse bist, ist es nicht egal ob du 6 Jahren und 10 monate bist - oder fast 8.

     

    Wenn es eine Zusammenhang zwischen Alter und sitzenbleiben gibt, sollten die Schulen wohl versuchen die Jüngsten in eine Klasse zu stecken.

  • C
    Christiane

    Hier werden wieder mal die Kleinsten als Versuchskaninchen mißbraucht. Es ist eine Schande. Wenn ein Kind in die Schule kommt will es was lernen und das erlernte evt. vertiefen. In diesem Alter ist es aber noch nicht unbedingt bereit das erlernte mit anderen zu teilen, das kommt meistens erst später, wenn man älter und reifer geworden ist. Bei mir war es so ab der 4. Klasse, dass ich bereit war schwächeren Mitschülern zu helfen.

     

    Aber Erwachsene, vor allem Politiker sind ja so oberschlau und wissen alles besser als andere. Die Schulbildung in Deutschland, vor allem in einigen Bundesländern, darunter auch Berlin, kann man echt in der Pfeife rauchen und das schon seit Jahrzehnten. Bis zur 4. Klasse bin ich selbst in Berlin zur Schule gegangen, danach in Baden-Württemberg wo ich meinen Abschluß gemacht habe. Als wir 1966 nach Berlin zurückkamen, war mein Wissenssprung gegenüber meinen Mitschülern in der Berufsschule enorm und das sagt ja schon alles.....

     

    Leider wurde es in der Schulpolitik in Berlin seit dem nicht besser.....

  • M
    Mutter

    Als Mutter eines Kindes, das JÜL ab der 2. Klasse erlebt hat wundert mich das mit der 3.Klasse schon etwas, da viel eher die 4.Klasse(Wechsel vom eher spielerischen zum ernsthaften Lernen)ein wenig das Problem ist. Andererseits ist es doch sinnvoll, ein Kind nochmal die relativ leichte, 3. Klasse, wiederholen zu lassen, damit es dann auch wirklich fit ist für die 4. Wir müssen mal vom Makel, den das Sitzenbleiben immer noch für viele bedeutet, wegkommen und das als Chance sehen, als Rettung, um später nicht völlig abzusacken oder den Anschluß zu verlieren. Ich würde es eher als Erleichterung sehen, und schon Gelerntes nochmal festigen zu können, noch einmal Fertigkeiten zu wiederholen und zu trainieren. Diese Leistungssch***e(sorry)schon in der Grundschule macht unsere Kinder kaputt, und wenn das gefördert wird(Förderunterricht)oder ein Kind noch ein Jahr länger in Klasse 123 bleiben soll(SItzenbleiben), dann schreien wieder alle auf- später kommt dann die Rechnung(Unlust, schlechte Noten, Nachhilfe, usw.)