piwik no script img

SCHNELLER ALS LICHT VONMATHIASBRÖCKERS

Vorletzte Woche starb in Genf 62jährig der Physiker John Bell — relativ unbemerkt, wenn man bedenkt, daß er es war, der das bedeutenste wissenschaftliche Werk dieses Jahrhunderts — die Relativitätstheorie — mathematisch widerlegt hat.

1965 bewies er in seiner als „Bells Theorem“ bekannt gewordenen Ungleichung, daß Quanten-Partikel augenblicklich in Interaktion treten können, auch wenn sie im Raum weit voneinander getrennt sind. Was Einstein als „gespenstische Fernwirkung“ bezeichnet hatte und nie akzeptieren wollte, stellte Bell auf ein solides mathematisches Fundament. Anfang der 80er Jahre bewiesen Alain Aspect und seine Pariser Kollegen experimentell, daß zwei Photonen, die miteinander in Kontakt waren, fortan ihr Verhalten aufeinander abstimmen und daß der Signalaustausch zwischen ihnen unmittelbar, in Überlichtgeschwindigkeit, erfolgt. Und damit gegen das einzige Absolutum verstößt, welches die totale Relativität im Einstein-Universum regiert: die unüberschreitbare Geschwindigkeit des Lichts. Mit der Bellschen Ungleichung war Einsteins berühmte Formel e=mc2 obsolet geworden — ein Schock, von dem sich das 20. Jahrhundert bis heute nicht erholen konnte: Es hat ihn noch kaum zur Kenntnis genommen. Alle lieben Einstein, keiner kennt John Bell — auch wenn namhafte Kollegen seine Arbeit als die bedeutendste wissenschaftliche Entdeckung der letzten Zeit bezeichnet haben. Dies hat mit einem Berg von philosophischen Problemen zu tun, den die Quantentheoretiker schon in den 20er Jahren aufgeworfen hatten und den Bells Theorem Mitte der 60er Jahre zementierte — ein bizarres Gebirge, dessen Abtrag den höchsten Preis fordert, der überhaupt entrichtet werden kann: die Aufgabe unseres Konzepts von Realität. 1927 hatte Heisenberg entdeckt, daß die Bahn eines Elementarteilchens erst dadurch entsteht, daß man nach ihr Ausschau hält und daraus die Schlußfolgerung gezogen, daß die Welt in gewissem Sinne „nicht real“ sei. Sie existiert in einer Wahrscheinlichkeitswolke von Möglichkeiten (der sogenannten „Wellenfunktion“) und nimmt erst dann eine Gestalt an, wenn ein Beobachter bewußt mit ihr in Wechselwirkung tritt — es gibt keine Objektivität, kein unabhängig von Idee und Willen des Betrachters existierendes Universum. Erst nachdem das menschliche Maßsystem Maß genommen hat, treten die Naturgesetze in Aktion. Daß es hinter dieser unheimlichen Welt der Quanten letztlich doch nach den Gesetzen der klassischen Physik zugehen würde und die Naturgesetze nur scheinbar außer Kraft gesetzt sind — diese Hoffnung Einsteins ist durch Bells Theorem und Aspects Bestätigung widerlegt. Ebenso wie die Erkenntnis des Jahrhundert-Genies, daß ein solches nicht-örtliches, Raum und Zeit ignorierendes Universum — wie das der beiden unmittelbar kommunizierenden Teilchen — bedeutungslos und metaphysisch sei. Seit Bells Theorem ist klar, daß einiges, wenn nicht das meiste, was gemeinhin Metaphysik genannt wird, zur harten Naturwissenschaft werden muß — oder aber die Wissenschaftler geben unumwunden zu, daß es ihnen einfach nicht möglich ist, die Natur zu erklären. Die Konsequenzen aus den Berechnungen des John Bell sind außerordentlich: entweder existiert das Universum wirklich in einem Äther, jenem von Einstein abgeschafften astralen Fluidum, das als Medium dieser Übertragungen fungiert. Oder aber unser Ortssinn ist falsch, es existiert keine Lokalität im physikalischen Sinne — etwas, was an einem Ort ist, kann sehr wohl auch an einem anderen physikalisch präsent sein. Auf die Frage, welchen Aspekt seiner Ungleichung er lieber festhalten würde — an der Existenz einer beobachter-abhängigen Realität oder an der Signalübertragung in Überlichtgeschwindigkeit, antwortete er: „Das kann ich wirklich nicht sagen. Ich habe hier keine Lösung anzubieten. Wir befinden uns in einem Dilemma, und, wie ich glaube, in einem grundlegenden Dilemma, das keine einfachen Lösungen zuläßt; es verlangt nach einem grundlegenden Wandel unserer Vorstellung von der Wirklichkeit. Aber die billigste Lösung ist, meiner Meinung nach, zu einer Realität zurückzukehren, wie sie vor Einstein existierte, als Männer wie Lorentz und Poincar einen Äther postulierten.“ (in: P. C. W. Davies/J. R. Brown: „Der Geist im Atom“, 1988)

Wenn aber kein Äther, was ist es dann, was sich überlichtschnell bewegt? Mit Bells Theorem ist Fiction scheinbar endgültig mit Science verschmolzen: berühmte und nobelgekürte Physiker haben die bizarrsten Spekulationen in den Bereich des Faktischen gerückt, die Überlegung, daß es „Informationen ohne Transportsystem“, nicht-materielle Kommunikation sein könnte, die alles Geschehen regiert, gehört noch zu den einleuchtendsten Schlußfolgerungen. Telepathie, Telekinese, UFOs, Zeitreisen und weitere Paranormalitäten hätten auf diesem Hintergrund einer völligen Neubewertung bedurft — und so nimmt es nicht Wunder, daß Bells Entdeckung bis heute eher im Verborgenen blüht. Zumal es ihm selbst sehr viel lieber gewesen wäre, wenn seine Berechnungen zu dem Ergebnis geführt hätten, das Einstein sich seinerzeit wünschte: die Quantenmechanik ad absurdum zu führen. Doch er hat sie bestätigt und ihren Merkwürdigkeiten noch eins darauf gesetzt. Es gibt Interaktion in Überlichtgeschwindikeit — fertig machen zum Beamen!

ALLELIEBENEINSTEIN,KEINERKENNTJOHNBELL

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen