■ Rußlands Umgang mit Umweltkatastrophen: Alles wie gehabt
In den Augen russischer Minister ist der 68 Quadratkilometer große Ölsee in der Provinz Komi nichts Besonderes. Das eigentlich Schlimme an dieser neuesten Umweltkatastrophe ist, daß die geschmähten Bürokraten mit ihrer Wahrnehmung recht haben. Was sind schon 300.000 Tonnen verschüttetes Öl im Vergleich zu jenen mindestens 25 Millionen Tonnen, die ohnehin jedes Jahr in den russischen Weiten versickern? Wen stören ölverklebte Vögel in einer Region, in der die Lebenserwartung der Menschen kontinuierlich sinkt und das heute auf dem Stand eines Entwicklungslandes angekommen ist? Umweltkatastrophen in Rußland haben längst Dimensionen erreicht, die US-Amerikanern und Westeuropäern kaum glaubhaft erscheinen.
Niemand hat je die immensen Flächen vermessen, die in der russischen Arktis und in Westsibirien von Öl durchtränkt sind. Noch immer wird im Südural den Einwohnern der Millionenstadt Tscheljabinsk die tatsächliche Strahlenbelastung verschwiegen – obwohl sie nach allem, was bis heute über die Unfälle in der Atomfabrik Majak bekannt wurde, weit über der im Tschernobyl-verseuchten Weißrußland liegt. Dem Ausmaß der alltäglichen Katastrophe entspricht, daß russische Umweltinitiativen nicht von Naturfreunden, sondern von ÄrztInnen gegründet werden, die sich über eine erstaunliche Zunahme an mißgebildeten Neugeborenen, an zu langsam wachsenden blassen Kindern und dauerkranken Erwachsenen wundern.
Daß nun ausgerechnet der eine Ölsee die Katastrophe sein soll; daß westliche Experten nun fordern, genau an dieser Stelle, statt an Tausenden anderen, endlich mit dem Aufräumen zu beginnen – das löst vermutlich auch bei Bürokraten angesichts der leeren Kassen ein Gefühl der Hilflosigkeit aus. Und daß eine nicht näher bezifferte Hilfszusage aus den USA noch keinen einzigen konkreten Dollar bedeutet, hat in Rußland jedes Kind begriffen. Das Herunterspielen der allgegenwärtigen und ganz realen Gesundheitsgefahren dient auch der eigenen Beruhigung.
Engagierte langfristige Hilfe gegen die Umwelt- Altlasten sowjetischer Produktionsweise, bei der es immer auf die Masse und nie auf die Klasse ankam, haben aus dem Westen bislang nur Umweltinitiativen geleistet. Westliche Regierungen, wie jetzt die der USA, gefallen sich hingegen immer mal wieder darin, ihren Medien den einen großen Skandal zu entdecken, ohne daß danach irgend etwas geschieht. Daraus zu lernen ist für Westler bloß, daß in Rußland alles ganz, ganz schrecklich ist. Eine Überzeugung, die ohnehin fest im kollektiven Gedächtnis über das Reich des Bösen verwurzelt ist. Im Vergleich stehen westliche Regierungen und westliche Industrien ganz sauber da. Was wohl zu beweisen war. Donata Riedel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen