Russlands Ordnungshüter: Hilferufe im Internet
Milizionäre klagen über Amtsmissbrauch, Korruption und die Verhaftung Unschuldiger. Immerhin erklärte jetzt der Innenminister, dass das Gesetz auch für Gesetzeshüter gelte.
MOSKAU taz | Grigori Tschekalin war stellvertretender Staatsanwalt in der Republik Komi bis zu seiner Entlassung vor zwei Jahren. Der 26-Jährige hatte gegen interne Spielregeln der Miliz verstoßen und wurde gefeuert: Nach einem schweren Brand mit Todesopfern stand die Polizei in Uchta unter Erfolgsdruck. Täter mussten her und so schnell wie möglich abgeurteilt werden.
Zwei Verdächtige fanden sich, die im Eilverfahren lebenslänglich erhielten. Tschekalins Ermittlungen ergaben jedoch, dass die Verurteilten unschuldig und die Untersuchungsberichte von der Polizei fingiert waren. Damit wandte er sich an den Vorgesetzten. Das kostete ihn den Job.
Vergangene Woche richtete Tschekalin in einer Videobotschaft via Internet die Bitte an Präsident Dmitri Medwedjew, die Unschuldigen aus der Haft zu entlassen. Auch aus dem Gebiet Swerdlowsk meldete sich eine Polizistin per Internet. Tatjana Domratschewa fand heraus, dass Teile des Polizeigebäudes unter der Hand an private Firmen vermietet wurden. Sie machte Meldung, prompt wurde ihr mit Entlassung gedroht. Mehr und mehr russische Ordnungskräfte haben ihr Coming-out.
Den Stein ins Rollen brachte der 32-jährige Major der Miliz Alexej Dymowski. Der stämmige Polizist aus der Schwarzmeerstadt Noworossisk ist Russlands neuer Held, seit er vorletzte Woche per Video auf Youtube Premierminister Wladimir Putin um eine persönliche Audienz bat.
Mehr als eine Million Internetnutzer klickten das Video an, in dem der Major Vorgesetzten in der städtischen Polizeibehörde Amtsmissbrauch und Korruption vorwirft. In letzter Zeit müsse er immer häufiger Unschuldige verhaften, mal um die Verbrechensstatistik zu schönen, mal, um zu Unrecht Verdächtigten Geld abzupressen, sagt er.
Noch hat Putin nicht reagiert. Der Skandal ist aber perfekt. Der Fall sorgt für Unruhe in den herrschenden Kreisen. Als vergangenen Dienstag Russlands Schutzmänner den Tag der Polizei begehen wollten, war Innenminister Raschid Nurgalijew nicht in Feierlaune. Statt der üblichen Selbstbeweihräucherung gab es diesmal starken Tobak: "Wer schwere Verbrechen begeht, wird dafür zur Verantwortung gezogen. Niemanden werden wir decken!", zitiert die Website des Innenministeriums den Chef. Kurzum: auch für Gesetzeshüter gilt das Gesetz.
Die Enthüllungen des Majors enthalten keine Sensationen. Was ihn so prominent machte, ist die ungewöhnliche Art, sich Gehör zu verschaffen. "Dymowski, du bist ein echter Kerl"! schrieb ein Blogger. Andere stellen die Frage: "Warum macht er das, ist er lebensmüde?" Der Major verstieß gegen den Corpsgeist. Das Innenministerium entließ Dymowski fristlos und leitete ein Verleumdungsverfahren ein, nicht ohne auf dessen Kontakt zu Menschenrechtlern in Noworossisk hinzuweisen, die von der US-Organisation USAID finanzielle Unterstützung erhielten. Alles deute auf die "Einmischung Dritter" hin, verlautete aus der Behörde. Der Major war somit als verlängerter Arm westlicher Geheimdienste entlarvt.
Gefahr für Leib und Leben beugte Dymowski zunächst durch den Gang an die Öffentlichkeit vor. Doch die Ermittler suchen schon nach dunklen Stellen in der Biografie, die sich nach zehn Jahren Dienst sicher finden lassen. Wenn nicht, bietet vielleicht seine psychische Verfassung eine Angriffsfläche. Dymowski wirkt in seinen Auftritten ruhig, jedoch nicht immer ganz aufgeräumt. So klagt er über Korruption und kriminelle Machenschaften des Arbeitgebers, regt sich im nächsten Atemzug indes über schlechte Bezahlung und unmenschliche Arbeitsbedingungen bei der Miliz auf.
Manchmal ist nicht klar, was ihn mehr empört. Zwei Frauen, gesteht er, hätten ihn schon verlassen, da er 30 Tage im Monat für einen mickrigen Lohn von umgerechnet 325 Euro arbeiten müsse. Seine jetzige Frau sei schwanger, die möchte er nicht auch noch verlieren. Ist es nicht doch nur der Hilfeschrei eines überforderten Mannes?
Als Dymowski nach Moskau reiste, um eine Pressekonferenz zu geben, wurde er von der Verkehrspolizei zunächst festgesetzt. Am Flughafen konnte er kein Ticket lösen, die Bankkarte war gesperrt. Er fuhr mit dem Auto weiter. Nun wartet er auf den Anruf des Garanten für Recht und Ordnung, Wladimir Putin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Scholz bezeichnet russischen Raketeneinsatz als „furchtbare Eskalation“