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Rußlands Demokraten unterstützen Litauen

■ Städteverbund nach Vorbild der Hanse? / Moskau will gesonderte Handelsbeziehungen zu Vilnius unterhalten / Russische Besuchergruppe nahm die Verhältnisse in Litauen unter die Lupe

Mit dem neuen Wahlrecht in der Russischen Föderativen Sowjetrepublik ist in viele Stadtsowjets ein frischer Wind eingezogen. In Moskau, Leningrad, Swerdlowsk und in den sibirischen Großstädten geben jetzt die Abgeordneten des Blocks „Demokratisches Rußland“ den Ton an. Die Stadtsowjets sind jetzt dabei, nach neuen, bisweilen querdenkerischen Lösungen für die ewige Versorgungs-, Wohnungs- und Ökokatastrophe der russischen Großstädte zu suchen. So etwas wie eine stadtmauerüberquerende Außenpolitik ist dabei ein notwendiges Nebenprodukt. Sogar ein Wirtschaftsverband dieser russischen Großstädte nach dem Modell der „Hanse“ ist im Gespräch, ja manche sehen sogar die Städte der Ukraine, Georgiens und Armeniens sowie der baltischen Staaten als Mitglieder eines solchen Bundes.

Ganz konkret betroffen ist zum Beispiel die Stadt Moskau von der Wirtschaftsblockade Litauens, hat sie bisher doch etwa 30 Prozent ihrer Milchprodukte und immerhin noch zehn Prozent der hier verzehrten Fleischwaren aus dem aufmüpfigen Ostseestaat bezogen. Politisch halten zwar die meisten Stadtsowjet-Deputierten den litauischen Schritt für übereilt, sind aber im Prinzip dammit einverstanden, daß jede der bisherigen Sowjetrepubliken nach ihrer eigenen Fasson seelig wird. Immerhin 105 Deputierte von Moskau haben das Embargo verurteilt, 20 von ihnen bildeten eine Kommission, die konkrete Wege zur Überwindung des litauisch -sowjetischen Konflikts sucht. Eine Studie zu den bisherigen Wirtschafts„banden“ zwischen Moskau und Vilnius gehört zu den ersten Ergebnissen.

Einer der interessierten Abgeordneten, der Soziologe Walerij Fadejew, beschreibt der taz gegenüber seine Hoffnungen: „Vor allem die neuen Wirtschafts und Finanzgesetze der UdSSR erschließen uns hier Möglichkeiten.“ Zum einen ist ein direkter Warenaustausch zwischen Betrieben zulässig, so daß litauische Unternehmen für ihre Moskauer Partnerschaftsbetriebe zum Beispiel einen direkten Lebensmittelservice organisieren könnten. Die Frage bleibt, wie die dort dringend benötigten Waren von Moskau aus durch die Zollkontrollen an der litauischen Grenze gelangen sollen. „Das Kontrollsystem ist gegenwärtig lückenhaft und unlogisch“, erklärt Fadejew, „so werden zwar grundsätzlich sogar alle Medikamente beschlagnahmt, andererseits werden Kraftwagen kaum kontrolliert.

Vom 7. bis 11. Mai reiste der Soziologe mit drei anderen Mitgliedern der Arbeitsgruppe nach Litauen, um die Chancen für neue Bande mit der Stadt Moskau abzutasten. Die vorwiegend russischen und weißrussischen Angestellten des Atomreaktors „Ignalia“, die ihre eigene Siedlung zur „dem Gesetz der UdSSR unterworfenen“ autonomen Enklave in Litauen erklärt haben, besuchten sie ebenso, wie die Bewohner eines Vororts von Vilniusmit vorwiegend polnischer Bevölkerung. „Es gibt in diesen Kreisen durchaus berechtigte Klagen über Belästigung und Diskriminierung“, beschreibt Walerij Fadejew, seinen Eindruck, „jedoch spielen sich diese Feindseligkeiten eher auf einer alltäglichen Ebene von Nachbarschaftsfehden ab und können nicht als das Resultat der litauischen Unabhängigkeitspolitik bezeichnet werden.“ Für schon bedenklicher hält er Klagen der Betroffenen, daß der allgemeinen Einführung des Litauischen als Staatssprache bisher kein entsprechendes Lehrangebot gegenübersteht: „Es ist verständlich, wenn sich diese Menschen Gedanken über die Zukunft ihrer Kinder in diesem Staat machen!“ Warum hält die Abgeordnetengruppe des Moskauer Stadtsowjet trotzdem an ihrer Bündnispolitik fest? „Wir sehen“, meint Fadejew, „daß der Schritt Litauens zu seiner eigenen Befreiung auch ein Schritt zu unserer Befreiung ist. Die Art, wie die Litauer vorgegangen sind, war natürlich gefährlich, und dennoch sind die strukturellen Reformen, die mit dieser Entscheidung für Litauen verwirklich wurden, auch für andere Sowjetrepubliken unumgänglich.“

Barbara Kerneck

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