: Rußland wählt die Prügelknaben der Nation
Wer die größten Aussichten auf ein Amt als Regionalgouverneur hat, bestimmen immer noch die Herren im Kreml ■ Von Barbara Oertel
Er hatte schon wie der sichere Sieger ausgesehen: Alexander Beljakow, Verwaltungschef des Gebietes Leningrad. Vollmundig hatte sich der 51jährige Agrarwissenschaftler noch kurz vor der entscheidenden Abstimmung über das Amt des Gouverneurs der noch immer nach dem Vater der Oktoberrevolution benannten Region um St. Petersburg in einem offenen Brief an die WählerInnen gewandt: „Die kommunistische Etappe der Reformen ist vorbei, genauso wie die radikaldemokratische. Jetzt beginnt die schöpferische Etappe, ohne jegliche Ismen.“ Auch der tatkräftigen Unterstützung aus Moskau hatte sich Beljakow, Chef der örtlichen Organisation der Regierungspartei „Unser Haus Rußland“ und Vorsitzender des Komitees für Wirtschaftspolitik im Föderationsrat, vorher versichern können. So hatte die Präsidialverwaltung angekündigt, alle Schulden der Föderation gegenüber dem Leningrader Gebiet noch vor der Regionalwahl zu begleichen. Überdies war dafür gesorgt worden, daß Beljakow, im Gegensatz zu seinen Konkurrenten, in den örtlichen Medien ständig präsent war.
Doch es nützte alles nichts: Am 29. September kam Beljakow mit 34 Prozent der Stimmen hinter dem Kommunisten Wadim Gustow, der 53 Prozent einheimste, nur als zweiter ins Ziel.
Im Kreml läuteten die Alarmglocken – aus gutem Grund: Seit Anfang September werden bei den Regionalwahlen in Rußland, die noch bis Ende des Jahres dauern, in 52 der insgesamt sogenannten 89 Subjekte (s. Kasten) der Föderation die Verwaltungschefs neu gewählt. Diese ziehen in den Föderationsrat ein, die zweite Kammer des russischen Parlaments. Sollte der Opposition tatsächlich der Durchmarsch gelingen, hätten der Präsident und seine Mannschaft, außer der Duma, in der die Kommunisten über die meisten Sitze verfügen, auch noch das russische Oberhaus gegen sich.
Doch so weit will es Rußlands Zentralregierung nicht kommen lassen. Bereits im August erstellten Mitarbeiter der Präsidentenadministration eine Liste mit den Namen der zu unterstützenden Kandidaten. Hauptkriterium für die Rückendeckung: Unbedingte Loyalität zum Staatschef und Verdienste bei Boris Jelzins Wiederwahl – auch wenn die Methoden, um Wähler auf Linie zu bringen, nicht immer die feinsten waren.
So drohte Wladimir Tschub, Gouverneur des Gebiets Rostow, mit seinem Rücktritt, sollte der Chef der Kommunisten, Gennadi Sjuganow, die Präsidentenwahlen gewinnen. Nach der zweiten Runde der Wahlen, am 3. Juli diesen Jahres, feuerte Tschub leitende Verwaltungsbeamte in den Bezirken des Gebietes Rostow, in denen Sjuganow zwischen 50 und 60 Prozent der Stimmen erhalten hatte und besetzte die Positionen mit „gefügigen“ Leuten.
„Die Zeit des dilettantischen Herangehens an Wahlkampfkampagnen ist vorbei. In jeder Region müssen die Wahlen professionell durchgeführt werden“, ließ Wladimir Ryschkow, Vorsitzender des Exekutivausschusses von „Unser Haus Rußland“ unlängst die Öffentlichkeit wissen. Und in der Tat: Für die Promotion seiner Wunschkandidaten scheut Moskau keinen Aufwand.
Rund 300 Emissäre des Kreml sind derzeit in der Peripherie unterwegs, um ihren Kandidaten das richtige Image zu verpassen. Dabei geht es in erster Linie darum, die Auserwählten als kompetente Wirtschaftsfachleute zu präsentieren. Flankiert wird das Imagepflegeprogramm von Finanzhilfen. So schickte der Kreml Jelzins eifrigem Wahlkampfhelfer Schub mal eben 400 Milliarden Rubel (rund 112 Millionen Mark) für die angeschlagene Fabrik Rostselmasch, 120 Milliarden Rubel für die Auszahlung ausstehender Renten und 80 Milliarden für die Beseitigung von Umweltschäden am Don im Gebiet Rostow. Außerdem erteilte Premierminister Viktor Tschernomyrdin Finanzminister Alexander Liwschitz, den Auftrag, Möglichkeiten zu prüfen, um den, völlig überschuldeten, örtlichen Fonds für Wohnungsbau aufzustocken.
Zu guter Letzt ließ Schub noch in Gegenden, wo die Menschen schon monatelang keinen Lohn mehr erhalten hatten, Turnschuhe, Stiefel und andere Waren umsonst verteilen. Dem hatte der kommunistische Gegenkandidat nur wenig entgegenzusetzen. Er konnte gerade mal ein paar Rubel für den Erhalt des Rostower Puppentheaters zusammenkratzen. Die Investitionen des Kreml zahlten sich aus: Tschub wurde Ende September wiedergewählt.
Von Moskauer Wahlkampfhilfe ganz besonderer Art berichtete unlängst die Moskauer Wochenzeitung Ogonjok. Dem amtierenden Gouverneur der Stadt Kirow, Wasilij Desjatnikow – ein Favorit Jelzins – war in Umfragen ein schlechtes Wahlergebnis prophezeit worden. Ein eigens angereister Helfer aus dem Kreml wußte Rat und holte flugs einen alten Bekannten von Desjatnikows Gegenspieler, dem kommunistischen Duma-Abgeordneten Wladimir Sergejenkow, aus der Versenkung. Der wußte über Sergejenkows Vergangenheit erstaunliche Dinge zu berichten, die die Medien auch gleich genüßlich verbreiteten. So habe er den einstigen Parteisekretär vor langer Zeit an einem Abend mit einem Genossen stockbetrunken im städtischen Parteikomitee vorgefunden. Sergejenkow sei später natürlich vorgeladen worden. Die Diffamierungskampagne lief ins Leere. Mitte Oktober wurde Wladimir Sergejenko im zweiten Wahlgang zum Gouverneur gewählt.
Wie es sich ohne Unterstützung aus Moskau antritt, bekommt gerade der Gouverneur des Gebietes Uljanowsk, Juri Gorjaschew, zu spüren. Bislang erfreute sich der Kommunist beim Volk großer Beliebtheit. Wohl auch deshalb, weil es sich bis jetzt „im Paradies der Bezugsscheine“ , wie die russische Wochenzeitung Moskowskie Nowosti lästerte, noch einigermaßen leben ließ. Wohnungsmieten und öffentliche Verkehrsmittel sind hier billiger als irgendwo sonst in Rußland, die Preise für Milch und Brot sind noch immer festgelegt. Noch vor drei Monaten konnte die Gebietsregierung Familien, deren Einkommen unter dem Existenzminimum von 218.000 Rubeln lag, mit 30.000 bis 50.000 Rubeln monatlich unterstützen. Doch in letzter Zeit hat sich die Lage rapide verschlechtert. Löhne und Renten können seit Monaten nicht mehr gezahlt werden. Anfang September streikte die Belegschaft des Betriebes für Flugzeugtechnik Awiastrada einen halben Tag und blockierte die Brücke über die Wolga.
Auf Hilfe aus Moskau braucht Gorjaschew nicht zu hoffen. Mit dem Rektor der Universität von Uljanowsk, Juri Poljanskow, präsentierte der Kreml kürzlich seinen Favoriten für die kommenden Wahlen. Gleichzeitig weiß Gorjaschew nur zu gut, daß er sich gerade jetzt, um im Wahlkampf gut dazustehen, für finanzielle Hilfe in Moskau stark machen muß. „Ich habe keine Macht und keinen ökonomischen Spielraum. Ein Gouverneur heutzutage ist doch für alle nur der Prügelknabe“, befand Gorjaschew und brachte damit das Dilemma eines jeden Gouverneurs auf den Punkt. Denn der sitzt, als Schaltstelle zwischen Zentralgewalt und Bevölkerung, nun mal zwischen zwei Stühlen und damit ziemlich unbequem.
Die Wähler in Uljanowsk sind am 22. Dezember zur Abstimmung aufgerufen. Der Wahlkampf hat gerade erst begonnen. Gorjaschew hat noch eine Chance auf Wiederwahl – anders als Beljakow. Nach dessen Schlappe im Gebiet Leningrad, bemühte sich der stellvertretende Vorsitzende der Präsidialverwaltung, Alexander Kasakow darum, die Situation herunterzuspielen. „Selbst wenn es der Opposition gelingen sollte, in insgesamt 25 Regionen zu gewinnen, können wir den Ausgang der Wahl als zufriedenstellend ansehen“, sagte Kasakow. Eigentlich, fügte er hinzu, seien die Regionalwahlen zu diesem Zeitpunkt ja nur anberaumt worden, um den Anhängern Jelzins im Falle von dessen Niederlage bei den Präsidentenwahlen eine Chance zur Revanche zu geben. Doch das sei jetzt ja nicht mehr nötig. Deshalb wäre er auch dafür gewesen, die Regionalwahlen zu verlegen. „Kluge Juristen hätten schon legitime Mittel und Wege gefunden.“ Doch leider habe sich Jelzin darauf nicht eingelassen. Der Präsident wird wohl gewußt haben, warum nicht.
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