piwik no script img

Russland und der Ukraine-KriegBomben-Stimmung für Putin

Das Institut Lewada hat ermittelt, dass über 80 Prozent der Rus­s*in­nen Putin und dessen „Spezialoperation“ stützen. Doch so einfach ist es nicht.

Üben für die Parade zum Ende des II. Weltkriegs Foto: Alexey Maishev/SNA/imago

Etwa einen Monat nach dem Beginn von Russlands „Spezialoperation“ in der Ukraine führte das Moskauer Lewada-Zentrum auch zu diesem Thema eine Umfrage durch. Ein Monat ist für die Gesellschaft eine ausreichend lange Zeit, um sich zu diesem oder jenem Ereignis zu verhalten. Sowohl im Lewada-Zentrum als auch in der Öffentlichkeit warteten viele gespannt auf die Ergebnisse der Erhebung.

Eine absolute Mehrheit der Rus­s*in­nen, von denen 64 Prozent treueste Pu­ti­nis­t*in­nen sind, ist überzeugt, dass Russland schon in den kommenden Monaten „eine Verbesserung des politischen Lebens“ bevorsteht

Einige glaubten, dass die Schritte der russischen Führung und die daraus resultierenden Folgen in der Bevölkerung Unzufriedenheit hervorrufen würden und die Zustimmung zu Präsident Wladimir Putin sinken würde. Andere hingegen nahmen an, dass die Entscheidungen von der Gesellschaft unterstützt und die Beliebtheitswerte von Putin steigen würden.

Für die zweite Einschätzung gab es gute Gründe. 2008 – Putin war zu diesem Zeitpunkt weder Präsident noch Oberbefehlshaber – hatte eine kurze Militäroperation zur „Erzwingung“ des Friedens in Georgien die Zustimmungswerte für Putin auf 88 Prozent steigen lassen. Der gleiche Wert wurde 2014 ermittelt, als sich Russland unter Beteiligung eigener Truppen, jedoch ohne Blutvergießen, die Krim einverleibte.

In beiden Fällen stärkte die negative Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft in der russischen Öffentlichkeit das Bewusstsein, im Recht zu sein. Auch die Sanktionen wurden nicht als ernsthafter Schaden oder eine Bestrafung für das Getane wahrgenommen: Wir haben agiert, sobald sich das eine Großmacht erlauben kann, oder besser gesagt: sobald es einer Großmacht erlaubt wurde, so zu handeln. Die Reaktion des Westens, wenngleich negativ, doch im Wesentlichen kraftlos, ist eine Anerkennung unserer Größe.

Novaya Gazeta Europe in der taz

Am 9. Mai 2022 jährt sich zum 77. Mal der Sieg der Roten Armee im „Großen Vaterländischen Krieg“ über Nazi-Deutschland. Diesen Tag beging schon die Sowjetunion, und Russland feiert das Kriegsende heutzutage mit einer großen Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau. Doch was hat der Kreml in diesem Jahr zu feiern? Seit 24. Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der Kampf tobt aber auch an der Heimatfront: Opfer sind vor allem die unabhängigen Medien, die versuchen der staatlichen Propaganda etwas entgegenzusetzen. Mit allen Mitteln wird versucht diese Stimmen zum Schweigen zu bringen.

Auch eine der letzten Bastionen des unabhängigen Journalismus, die Novaya Gazeta, ist von diesen Repressionen betroffen. Das Team der Novaya Gazeta Europe hat das Land verlassen, um die Arbeit fortsetzen zu können und denjenigen eine Stimme zu geben, die den Krieg niemals akzeptieren und nie unterstützen werden.

Angesichts von Zerstörung, Flucht, Elend, Tod und wachsendem Hass braucht es ein Zeichen der Solidarität. Auf Initiative der taz Panter Stiftung bringen wir zum Jahrestag Texte der Novaya Gazeta Europe heraus auf Deutsch, Russisch und Ukrainisch. Die Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Alle Texte erscheinen in der taz vom 9. Mai 2022 und online hier.

Angst vor Hungerzeiten und einer Wirtschaftsblockade

Doch dieses Mal erfolgte die Aktion weder schnell noch unblutig. Das verstehen alle, sogar diejenigen, die niemandem zuhören, außer den Stimmen in ihrem Fernseher. Dieses Mal machte sich Angst vor Hungerzeiten und einer Wirtschaftsblockade breit. Wer also – ganz im Sinne des sowjetischen Marxismus-Leninismus – geglaubt hatte, das Sein bestimme das Bewusstsein, der Kühlschrank sei stärker als der Fernseher, hatte die Hoffnung, dass es dieses Mal nicht so sein würde wie damals.

Aber es kam wieder ganz genauso. Sowohl 2014 als auch jetzt ist eine wachsende Zustimmung nicht nur in Bezug auf die Operation, sondern auch auf den Oberbefehlshaber zu verzeichnen. (Sie nähert sich schnell den bereits bekannten Werten an: Die Unterstützung für die Spezialoperation liegt bei 81 Prozent, Putin kommt auf 83 Prozent. Das sind 12 Prozentpunkte mehr als noch im Februar).

Wie damals hat sich eine Art Selbstgefälligkeit ausgebreitet. Sowohl der Ministerpräsident als auch die Regierung erfahren ein ungewöhnlich hohes Maß an Zustimmung. Sogar die Staatsduma, die sich immer im Minusbereich bewegte, wird jetzt für ihre Arbeit positiv bewertet. Die Zukunftsaussichten für ihre eigene Familie, die vor Kurzem noch in düsteren Farben gezeichnet wurden, schätzen viele der Befragten jetzt optimistischer ein.

Doch Politiker, aufgepasst: Eine absolute Mehrheit der Rus­s*in­nen (55 Prozent, von denen 64 Prozent treueste Pu­ti­nis­t*in­nen sind), ist davon überzeugt, dass Russland „eine Verbesserung des politischen Lebens“ bevorsteht, und zwar nicht irgendwann, sondern „in den kommenden Monaten“. Diese Menschen dürfen nicht enttäuscht werden. Sie erwarten sich vor allem politische, nicht wirtschaftliche Verbesserungen.

Welche Gefühle lösen Russlands Kampfhandlungen aus?

Denjenigen aber, die nach Luft schnappten, als sie von den über 80 Prozent Zustimmung zu Putin und seiner Operation in der Ukraine erfahren und für sich entschieden haben, dass das Fernsehen obsiegt und alles Menschliche in den Leuten umformatiert hat, sagen wir: So einfach ist es nicht.

Wir haben den Rus­s*in­nen die folgende Frage gestellt: Welche Gefühle lösen Russlands Kampfhandlungen in der Ukraine bei Ihnen aus? Zwei Prozent fanden die Antwort schwierig. „Keine besonderen Gefühle“ verspürten acht Prozent der Befragten. Das heißt, die Menschen sind bereit zu antworten.

Den Befragten wurde ein Dutzend Wörter vorgelegt, um verschiedene Gefühle zu beschreiben. Die Wörter repräsentierten vier Arten von Gefühlen: politisch gefärbte positive Gefühle (Stolz auf Russland), politisch negativ besetzte Begriffe (Wut, Empörung, Scham), unpolitische positive Gefühle (Zufriedenheit, Freude, Begeisterung), unpolitische negative Gefühle (Bedrohung, Entsetzen, Schock).

Dabei konnten die Befragten mehrere Antworten auswählen, daher ist die Gesamtsumme größer als 100 Prozent. In diesem Zusammenhang drücken die folgenden Zahlen nicht die Anzahl der Personen aus, die die eine oder andere Antwort gegeben haben, sondern den Anteil der verschiedenen Antworten an ihrer Gesamtzahl. So wird der Verhältnis von Meinungen zueinander ermittelt, die in einer bestimmten Gesellschaft existieren.

Stolz auf Russland dominiert

Betrachtet man den Anteil negativer und positiver Gefühle, sind sie fast gleich: 51 und 49 Prozent. Aber jede dieser Hälften setzt sich anders zusammen. Unter den positiven Gefühlen dominiert der „Stolz auf Russland“ (40 Prozent der aussagekräftigen Antworten). Das ist eine politisch klar definierte Antwort. Auf „Freude und Begeisterung“ entfallen 11 Prozent. In der anderen Hälfte ist das Verhältnis umgekehrt.

Politisch definierte Antworten – „Wut, Empörung, Scham“ – 10 Prozent der aussagekräftigen Antworten, die restlichen 39 Prozent entfallen auf Bedrohung, Entsetzen, Schock. Es ist klar, dass sowohl in der individuellen als auch in der kollektiven Seele ein Schamgefühl und ein Gefühl des Entsetzens koexistieren können und dass sogar Stolz mit Angst verbunden sein kann.

Diese Berechnungen lassen den Schluss zu, dass die Unterstützung der russischen Öffentlichkeit für das Vorgehen der Armee und ihres Kommandos zur Hälfte mit großer Besorgnis einhergeht. Wie schon gesagt unterstützen 80 Prozent der Rus­s*in­nen Putin. Es überrascht nicht, dass es unter ihnen eine wachsende Anzahl derer gibt, die in der gegenwärtigen Situation stolz auf Russland sind. Aber auch unter den Antworten dieser Menschen gibt es viele Berichte über Angst und andere negative Gefühle.

Sie machen nur ein Drittel weniger aus als die Antworten „Freude“ und „Stolz“. Die Ereignisse wurden von Jugendlichen und Älteren unterschiedlich wahrgenommen. Unter den Befragten, die jünger als 35 Jahre sind, überwiegen negative Gefühle. Von den Jüngsten werden sie doppelt so häufig genannt wie positive Gefühle. Von Angst sprechen 37, von Stolz nur 33 Prozent. Unter den Menschen mittleren Alters dominieren positive Emotionen. Diese sind bei den ältesten Befragten jedoch am häufigsten zu finden.

Mehr ältere Menschen unterstützen Putin

Nehmen wir die Gruppe 65+. Hier liegt die Unterstützung für die Aktionen der russischen Streitkräfte in der Ukraine sowie die Zustimmung zu Putin bei 90 Prozent. Bemerkenswert ist, dass, obwohl in dieser Altersgruppe ältere Frauen stark überwiegen, diese seltener über Ängste berichten als andere. Die russische Militäroperation in der Ukraine erzeugt mehr positive als negative Reaktionen.

Ist dieses Bild nicht doch komplexer, als es vielen scheint, die nur auf die sensationellen Zustimmungswerte blicken? Es ist bekannt, dass in mehreren russischen Städten Proteste gegen die Spezialoperation in der Ukraine stattgefunden haben. In der zitierten Erhebung haben wir die Rus­s*in­nen auch danach gefragt, warum die Menschen ihrer Meinung nach an diesen Protesten teilnehmen.

15 Prozent der Befragten fanden eine Antwort schwierig oder wollten gar nicht antworten. Alle anderen wählten unter fünf Varianten aus, wobei mehrere Antworten angekreuzt werden konnten. 32 Prozent der Befragten wählten die Variante, dass viele protestierten, weil sie dafür bezahlt würden.

Auch hier hat das Alter einen großen Einfluss auf die Antworten. Bei Jugendlichen, die einen Großteil der De­mons­tran­t*in­nen ausmachen, steht die Antwort „Bestechung“ an vorletzter Stelle. Bei den Älteren ist das die häufigste Antwort. Sie ist insofern bequem, als sie den Protest für fiktiv erklärt und gleichzeitig auf die Anwesenheit geheimer Kräfte hinweist, die versuchen, das System durch Bestechung zu untergraben. Jemand, der diese Antwort wählt, koppelt sich vollständig von den Protestierenden ab und erhebt sich moralisch über sie. Um sich selbst und anderen seine Loyalität gegenüber den Behörden zu demonstrieren, ist eine solche Antwort ideal.

Ähnlich funktioniert die Antwort, viele kämen, um einfach dabei zu sein, aus Interesse oder Neugierde (15 Prozent). Andere Antworten auf die Frage, was die Menschen veranlasst habe, an den Protesten teilzunehmen, lauteten wie folgt: Personen unter 35 Jahren wählten am häufigsten einen Grund wie „Empörung über die Militäroperation in der Ukraine. Als die 18- bis 24-Jährigen nach ihrer eigenen Reaktion auf die Spezialoperation gefragt wurden, nannten 7 Prozent „Empörung“. 42 Prozent gaben dieses Gefühl als Motivation der Protestierenden an, mit denen sie sich verbunden fühlen.

Empörung ist weit verbreitet

In der Gruppe der 24 bis 34-Jährigen waren die entsprechenden Werte 10 und 36 Prozent. Empörung über die Operation in der Ukraine als Protestgrund ist auch für ältere Menschen nachvollziehbar. Bei den Befragten ab 35 Jahren taucht dieses Motiv an zweiter Stelle auf (von fünf). Kurz gesagt: In allen Gruppen wird „Empörung“ zwei- bis viermal häufiger genannt als bei den Antworten über die eigenen Gefühle. Selbst bei Personen, die Putins Operation in der Ukraine gutheißen, wird Empörung als Protestmotiv am zweithäufigsten genannt.

Wir ziehen folgendes Fazit: Das Verständnis dafür, dass das, was passiert, grundsätzlich Empörung hervorrufen sollte, ist weit verbreitet. Aber die Bereitschaft, sich zu empören und das auch noch zu zeigen, ist viel geringer. Es scheint, dass sich hier zwei ziemlich weit verbreitete Merkmale der russischen Gesellschaft manifestieren.

Eines lässt sich wie folgt zusammenfassen: Wir verstehen alles. Wenn eine Person mit einem leeren Blatt Papier in der Hand auf die Straße geht, verstehen die Strafverfolgungsbeamten die Botschaft dieser Person genauso gut wie die Bürger*innen. Das zweite Merkmal: „Das ist nicht mein Ding.“ Dahinter steht der Wunsch, die eigenen Bürgerrechte und Befugnisse an andere zu delegieren: Politiker sollen Politik machen, Verwaltungsbeamte verwalten und De­mons­tran­t*in­nen protestieren.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass uns eine Frage im März 2022, wie auch schon im März 2014, immer häufiger gestellt wird: Kann man solchen Daten in Zeiten wie diesen vertrauen? Viele geben selbst die Antwort: Nein. Unsere Analyse hat jedoch eins gezeigt: Die Ereignisse spiegeln sich derzeit noch nicht in den formalen Merkmalen der Umfrage wider.

Das Bewusstsein der Massen befindet sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt in einem ungewöhnlichen Zustand: Die Oberfläche ist das eine, das, was in der Tiefe liegt, ist etwas anderes. Das haben wir versucht zu zeigen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen