Russland nach der Wahl: Putin ist nicht mehr unersetzlich
30.000 Menschen demonstrieren in Moskau, sie werfen Putin Wahlbetrug vor. 100 sollen verhaftet worden sein. Putin hätte aber auch ohne Mauscheleien gewonnen.
MOSKAU taz | Mit Rufen wie „Russland ohne Putin!“, „Wir sind die Macht!“ und Plakaten mit der Aufschrift „Putin, entfache keinen Bürgerkrieg!“ demonstrierten schätzungsweise 30.000 Menschen am Montagabend auf dem Puschkin-Platz in Moskau gegen Wahlbetrug. Die Kundgebungsteilnehmer forderten eine Annullierung des Ergebnisses der Präsidentenwahl und kündigten für den kommenden Samstag eine weitere Demonstration an.
Nach Angaben der Opposition sind mindestens 100 Regierungsgegner festgenommen worden. Auch der Skandalautor Eduard Limonow und der rechtsextreme Anführer Dmitri Djomuschkin seien bei einer nicht genehmigten Kundgebung vor dem Gebäude des Inlandsgeheimdiensts FSB abgeführt worden, berichtete das kremlkritische Internetportal kasparov.ru am Montagabend. Auch in der zweitgrößten Stadt St. Petersburg gab es mindestens 70 Festnahmen.
Auf einem anderen Platz im Moskauer Stadtzentrum demonstrierten nach Behördenangaben mehr als 14.000 Menschen friedlich gegen das von Fälschungsvorwürfen überschattete Ergebnis der Präsidentenwahl vom Vortag.
Viele trugen bei der genehmigten Kundgebung Bänder im Weiß der Oppositionsbewegung. Am späten Abend war eine Menschenkette rund um den Kreml geplant. Ein massives Sicherheitsaufgebot sicherte die Machtzentrale.
Hat er geweint oder nicht?
Am Morgen nach den Präsidentschaftswahlen war der Sieger in aller Munde. Doch nicht die neue Amtszeit Wladimir Putins bewegte die Bürger - sondern vielmehr sein öffentlicher Auftritt nach dem Wahlsieg vor dem Kreml. Sollten es tatsächlich Tränen der Freude und Erleichterung gewesen sein, die dem neuen Kremlchef über die Wangen liefen, als er sich bei hunderttausend Fans für den Triumph bedankte? Mit zitternder Stimme beschwor er den Sieg und das „Große Russland“, als dessen Verkörperung er sich sieht.
Gefühle hatte der starke Mann im Kreml seinem Volk bislang vorenthalten. Selbst Gegner waren da gerührt. Wladimir Putin dementierte unterdessen in der Früh: der starke Wind auf der Tribüne hätte ihm die Augen wässrig gemacht. Als Weichei wollte der Präsident die neue Amtsperiode keinesfalls antreten. Er kehrt zwar als Sieger zurück, die Aura des unersetzlichen Kremlchefs hat ihn jedoch verlassen.
Beobachter der OSZE kritisierten die Wahl als ungerecht und unfair. In einem Drittel der überwachten Wahllokale seien bei der Auszählung schwere Unstimmigkeiten festgestellt worden. “Die Wahl ist nicht fair verlaufen, trotz Verbesserungen wie Webcams in Wahllokalen und transparenten Urnen“, sagte die Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini von der OSZE.
10 Prozentpunkte Wahlbetrug
Die Wahlbeobachter der russischen NGO „Golos“ bezifferten den Betrug auf Basis einer Alternativauszählung auf mindestens 10 Prozentpunkte. Putin hätte den Einzug in den Kreml somit auch ohne Mogelei gemeistert. Statt 64 hätte er 54 Prozent erhalten und wäre in der ersten Runde gewählt worden.
Dass dennoch alle Vorbereitungen getroffen wurden, das Ergebnis zu garantieren, zeugt von der Verunsicherung der herrschenden Elite. Auch nach dem Coup scheint sie sich des Sieges nicht sicher zu sein. Moskaus Zentrum hat sich in ein Heerlager verwandelt. „Wir sind eine okkupierte Stadt“, postete ein Blogger. „Gut, dass sie nur mit Muskeln und noch nicht mit Waffen spielen“, meinte ein anderer.
Die meisten russischen Beobachter gehen davon aus, dass der Protest nach der Wahl nicht abebben werde. Putin werde zwar zu Kompromissen nicht bereit sein, doch die Spielregeln seien seit den Dumawahlen verändert. Auch die Dosierung von Zuckerbrot und Peitsche hätte sich zugunsten des Süßwerks verschoben. So beauftragte der scheidende Präsident Dmitri Medwedjew gestern den Generalstaatsanwalt, die Urteile gegen 32 politische Gefangene zu überprüfen.
Die Liste der Inhaftierten war dem Präsidenten bei einem Treffen mit Vertretern der Opposition übergeben worden. Auch Russlands bekanntester Häftling, der Ex-Yukos-Chef Michail Chodorkowski, steht auf der Liste. Gleichzeitig sprach Medwedjew, wenn auch nebulös, von der Möglichkeit einer verfassunggebenden Versammlung.
Alles alt, alles neu
Noch verfügt die heterogene Oppositionsbewegung über kein strategisches Programm. Es fehlt auch eine neue Führungsriege. Für Russland mag das von Vorteil sein. Die neuen Figuren können nicht nur langsam heranreifen, die Gefahr, wieder in einen Führerkult zu verfallen, der die Opposition der 90er Jahre lähmte, ist dadurch vorerst gebannt.
Versuche des Kreml, die bekannteren Oppositionellen zu diskreditieren oder zu kooptieren, schlagen auch aus einem anderen Grund fehl: Der Protest kommt diesmal von unten und wird nicht von oben inspiriert. Auch in den Regionen regt sich immer mehr Unmut. Dort gehen die Menschen auch gegen Korruption, Umweltverbrechen oder ungerechtfertigte Erhöhungen von Tarifen für Energie und kommunale Versorgungen auf die Straße.
Die Dinge in Russland sind im Fluss. Am besten beschreibt der Schriftsteller Fasil Iskander den Zustand: „Alles hat sich verändert, alles ist wie vorher geblieben. Alles ist wie vorher, aber alles hat sich geändert.“ (mit dpa)
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