GASTKOMMENTARE: Rußland im Nebel
■ Zur qualvollen Geburt einer neuen Gesellschaft in Rußland
Russia in the shadow“ hieß ein Reisebericht des britischen Science-fiction Autors Herbert G. Wells aus dem Herbst 1920. So ähnlich geht es jedem Beobachter des heutigen Rußlands, ob drinnen oder draußen. Wells war von der vollständigen Zerrüttung des Landes, das gestern noch eine Weltmacht war, tief schockiert. Umso phantastischer erschien ihm der „Träumer im Kreml“, Lenin, der ihm anhand großformatiger Diagramme einen Vortrag über die totale Elektrifizierung des Reiches binnen der nächsten zwei, drei Jahre hielt. Was sehr modern aussah, war in Wirklichkeit ein Stück politischer Mesmerismus — ein primitiv-magischer Glaube an die Möglichkeit, daß im Koma liegende Land durch seine „Elektrifizierung“ wieder zu einem „neuen Leben“ zu erwecken. Tatsächlich glich Lenin bereits 1920 einem Buben, der einen lebenden Maikäfer auseinandergenommen hat und nun nicht wieder „zusammenbekommt“. Vom Ausmaß, dem Charakter, den Motiven dieser sozialen und politischen Reaktion, die das Sowjetregime bedeutet hat, haben wir noch immer keinen angemessenen Begriff. Es handelt sich um nicht mehr und nicht weniger, als daß eine Gesellschaft (im Sinne des Wortes) sich überhaupt erst wieder herstellen muß.
Das ist ein Prozeß, der mit keinerlei „mesmeristischen“ Zaubermitteln herbeigeführt oder beschleunigt werden könnte. Im Gegenteil: Alles, was eine Regierung in Rußland tun kann, ist, recht und schlecht die äußeren Rahmenbedingungen einer allmählichen Regeneration zu schaffen.
Daß der „Kongreß der Volksdeputierten Rußlands“, diese Mißgeburt der Gorbatschowschen Halbreformen, als repräsentative Körperschaft untauglich ist, liegt offen zutage. Das Schicksal der Wirtschaftsreformen hängt notgedrungen am seidenen Faden der persönlichen Autorität Jelzins und seiner jungen Leute. Und dennoch könnte es sein, daß in dem zähen Tauziehen zwischen russischem Volkskongreß und Jelzins Präsidialregime sich die Umrisse eines neuen Konstitutionalismus herauskristallisieren — so wie einst zwischen Ständevertretungen und absolutem Souverän.
Es gibt keine Klassen mehr in Rußland — darin liegt, überspitzt gesagt, die Hauptschwierigkeit. Denn damit gibt es auch keine tragenden sozialen Interessen mehr, keine Verbände, keine Parteien, keine vermittelnden gesellschaftlichen Institutionen. Die Abgeordneten des Volkskongresses stammen allesamt aus der alten „Nomenklatura“ — aber das gilt für Jelzin und sämtliche Reformer nicht minder. Wichtiger ist vielleicht, daß die Volksdeputierten heute vornehmlich als Vertreter ihrer Regionen, Wirtschaftszweige etc. auftreten. Das ist, nüchtern betrachtet, vielleicht die erste und einzig mögliche Form des Übergangs zu einer Form der Interessenvertretung. Gerd Koenen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen