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■ Russische Truppen kämpfen seit mehr als einer Woche in der Kaukasus-Republik Dagestan gegen islamistische Rebellen. Die Aufständischen wollen Dagestan mit Tschetschenien zu einer Islamischen Republik vereinigen. Die Bevölkerung Dagestans wehrt sich, zu verschieden sind die Interessen der zahllosen Clans in der VielvölkerregionKein Platz für Fanatismus

Unter dem Titel „Der Krieg beginnt erst“ kommentierte die Moskauer Wochenzeitung Moskovskie Novosti letzte Woche die jüngsten bewaffneten Auseinandersetzungen militanter Islamisten und russischer Truppen in Dagestan. „Die radikalen Kräfte in Dagestan fordern, dort die Gesetze der Scharia einzuführen, den Rückzug russischer Truppen zu erzwingen, eine unabhängige Republik zu errichten und sie mit Tschetschenien zu vereinigen“, schrieb das Blatt. „Das würde unter den Bedingungen des multinationalen Dagestan unweigerlich einen Krieg aller gegen alle bedeuten.“

Diese Prognose könnte sich als richtig erweisen. Denn die Kaukasusrepublik, die im Zuge des Krieges im benachbarten Tschetschenien von 1994 bis 1996 eher unfreiwillig in die Schlagzeilen geriet, ist von jeher ein Pulverfass. Dagestan, dessen Name übersetzt „Bergland“ bedeutet, ist weltweit die Region mit der größten ethnischen Vielfalt. Selbst Völkerkundler haben vor der genauen Angabe aller Völker, Nationalitäten und Sprachen kapituliert, geben aber für das Land mit rund zwei Millionen Einwohnern, das kaum größer als Niedersachsen ist, 33 Ethnien, 80 Nationalitäten und 39 Sprachen an. Zu den zahlenmäßig stärksten gehören die Awaren, Darginer, Kumyken, Lesginen und Laken. Russen machen gerade einmal neun Prozent, Tschetschenen drei Prozent der Bevölkerung aus. Die Mehrheit der Bevölkerung sind sunnitische Muslime.

Wenigstens eine Erfahrung teilen die Bewohner Dagestans mit ihren tschetschenischen Nachbarn, mit denen sie ansonsten wenig verbindet: der unbändige Widerstand gegen die russischen Eroberer. Unter ihrem Führer Imam Schamil widerstanden die „Gorzy“, die Bergvölker, während der Eroberungskriege von 1832 bis 1859 den zaristischen Truppen. 1859 annektierte Russland Dagestan als Provinz. Ein weiterer Aufstand im Jahre 1877 wurde blutig niedergeschlagen.

Eingedenk des Versprechens von Wladimir Iljitsch Lenin, ethnischen Minderheiten einen Autonomiestatus einzuräumen, unterstützten während der Oktoberrevolution von 1917 alle Kaukasusvölker vorbehaltlos die Bolschewiken. 1921 wurde die „Dagestanische Autonome Sozialistische Soviet-Republik“ ausgerufen.

Ende der 30er Jahre begannen auch in Dagestan die Zwangskollektivierungen in der Landwirtschaft, was Umsiedlungen zur Folge hatte und Ethnien ihren Lebensraum nahm. Ein übriges tat die Neuaufteilung von tschetschenischen Siedlungsgebieten, die Stalin nach der Zwangsdeportierung der Tschetschenen 1944 Dagestan zuschlagen und mit Laken und Awaren besiedeln ließ.

Das System der Sowjets versuchte, dem multinationalen Charakter Dagestans Rechnung zu tragen. Posten wurden nach einem Schlüssel vergeben, der die ethnische Zusammensetzung berücksichtigte. Trotzdem gelang es Moskau nicht, die Clanstrukturen aufzubrechen. Auch der verordnete Atheismus lief in Dagestan ins Leere. Und das, obwohl Moskau einen wahren Kreuzzug gegen die Religion entfesselte. Religiöse Schulen wurden geschlossen, Moscheen zerstört, deren Eigentum konfisziert. Von 1.700 Moscheen im Jahre 1917 waren 1988 nur noch 27 übrig geblieben.

Anfang der 90er Jahre manifestierten sich auch in Dagestan Unabhängigkeitsbestrebungen. So forderte die nationale Sammlungsbewegung der Kumyken, Tenglik (Gleichheit), 1990 die Schaffung eines kumykischen Nationalstaates innerhalb Dagestans. Ihre Forderung wollten die Kumyken als Protest gegen die Dominanz der Awaren auf wichtigen staatlichen Posten verstanden wissen. Nachdem die dagestanische Regierung 1991 einen Kumyken zum Justizminister ernannt hatte, konnte die Krise beigelegt werden.

Auch zwischen einzelnen Ethnien spitzen sich die Konflikte zu. So forderten 1992 aufgebrachte Tschetschenen die Rückkehr in ihre angestammten Siedlungsgebiete. Es kam zu schweren Zusammenstößen zwischen Tschetschenen und Laken, der Ausnahmezustand wurde verhängt, russische Spezialeinheiten wurden in die Region verlegt. Nach Konzessionen an die Tschetschenen konnte die Regierung auch diesen Konflikt entschärfen.

Was nicht zuletzt an deren spezifischer Struktur liegen dürfte. So rekrutiert sich das heutige politische Establishment einerseits aus altgedienten Nomenklaturisten, wie Präsident Magomedali Magomedow, der diesen Posten seit den 70er Jahren bekleidet, andererseits aus den so genannten buisenessmeny, die die Interessen bestimmter Clans repräsentieren. Dabei geht es den Amtsinhabern, die ethnisch quotiert in die Regierung entsandt werden, mehr um die Sicherung und Verteilung von Pfründen als um politische Programme.

So wenig die politischen Strukturen für radikale Kräfte durchlässig sind, so stark bindet die wirtschaftliche Situation Dagestan an Moskau. Und die ist desolat. So ist jeder zweite Erwachsene arbeitslos, Fabriken stehen still, Eigentumsverhältnisse auf dem Land sind ungeklärt, die Privatisierung tritt auf der Stelle. Dagestan hängt am Moskauer Tropf.

Nicht zuletzt diese Abhängigkeit ist es, die Dagestan bislang fest im russischen Staatsverband verankert hat. Dass das Vorhaben, dies zu ändern und dabei die Religion für politische Zwecke zu instrumentalisieren, schwer zu realisieren sein dürfte, hat auch der Krieg in Tschetschenien gezeigt. Appelle des tschetschenischen Warlords Dschochar Dudajew an Dagestan, sich mit dem Nachbarn gegen Russland zu vereinen, blieben unbeantwortet. Die Geiselnahme im dagestanischen Kisljar durch tschetschenische Freischärler 1995 und die Bombardierung des dagestanischen Dorfes Perwomaiskoje durch russische Truppen steigerten noch den Zorn auf den Nachbarn. So dürfte sich die Mehrheit der Bevölkerung als gegen religiösen Fanatismus immun erweisen – noch. Barbara Oertel

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