Russische Journalistin Larissa Reissner: Geist und Kanonen in der Moderne

Trotzki, Pasternak und Gorki bewunderten die russische Journalistin Larissa Reissner. Einige ihrer Reportagen liegen nun wieder auf Deutsch vor.

Beobachterin und Revolutionärin: Larissa Reisner

Beobachterin und Revolutionärin: Larissa Reisner Foto: akg

Niemand sieht hin, niemand glaubt daran“, schreibt Larissa Reissner

im November 1923 über eine SPD-Gedenkveranstaltung zum 5. Jahrestag der Novemberrevolution irgendwo in Berlin. Die junge sowjetische Journalistin, die einen Teil ihrer Kindheit in Zehlendorf verbracht hat, entwirft in knappen Sätzen das Bild einer „schändlichen und bankrotten bürgerlichen Republik“.

Reissner verschafft sich im selben Jahr auch Zugang zum Reichstag und schreibt: „Es ist eine Galerie von zerknitterten Galgenphysiognomien, die es verstanden haben, von der Macht zu kosten.“

Der Text schillert irgendwo zwischen Reportage und Satire. Reissners satte Ironie drückt Verachtung aus für das „parlamentarische Spiel“. Es sind durchwegs Schwarz-Weiß-Bilder, die die überzeugte Bolschewikin in ihren Reportage-Skizzen malt. „Berlin hungert. Jeden Tag hebt man auf der Straße Menschen auf, die vor Erschöpfung ohnmächtig geworden sind“, beginnt ein Text über „Arbeiterkinder“ im Jahr der Hyperinflation.

Artikel in der Weltbühne

Abgedruckt wurden ihre Texte, die Menschen und Politik der Weimarer Republik kalt sezieren und mit klarem politischen Standpunkt aufwarten, in der scharfzüngigen Weltbühne. Nach ihrem frühen Tod 1926 erschienen einige Textsammlungen in der UdSSR und in Willi Münzenbergs kommunistischem Neuem Deutschen Verlag.

Nach ihrer posthumen Diffamierung als Trotzkistin war sie nach 1945 im Ostblock ein rotes Tuch, wurde aber auch im Westen vergessen. Dem Schriftsteller Steffen Kopetzky ist Larissa Reissner 2019 zufällig untergekommen. Sein Vorwort zur Neuausgabe ihres Werks sprüht vor Begeisterung. Mit seiner Faszination für Reissner als Frau, Revolutionärin und Journalistin steht er in der Tradition von Joseph Roth, Kurt Tucholsky und Karl Radek.

Wertvoll sind ihre Texte wegen ihrer atmosphärisch-dichten Beschreibungen, die in ihrer Unmittelbarkeit hundert Jahre später eine Annäherung an die damalige Lebenswirklichkeit möglich machen. Was fehlt, ist ein echtes Interesse an den Menschen, die sie beschreibt. Diese sind für sie nur Material. Material, aus dem sie die Bilder nimmt, mit denen sie ihre Weltanschauung stützen kann.

Die Journalistin Maria Leitner

Zur selben Zeit beginnt auch Maria Leitner ihre Karriere als Journalistin. Wie ihre sowjetische Kollegin schreibt auch sie Reportagen. Sie lässt sich in den USA drei Jahre lang bei 80 verschiedenen Arbeitgebern anstellen und berichtet darüber für die Ullstein-Zeitschrift Uhu. 1928/29 erscheint in Ullsteins Tempo ihre Berliner Reportage-Serie „Menschen in der Großstadt“, in der sie Menschen – vom Kinopianisten bis zum Bettler – eine Stimme gibt.

Leitner, die sich in Münzenbergs Hilfsorganisation „In­ter­na­tio­nale Rote Hilfe“ engagiert, braucht im Gegensatz zu Reissner die explizit politische Setzung in ihren Texten nicht. Stattdessen spricht leise Empathie aus ihren Sätzen.

Undercover bei Ullstein und Krupp

Larissa Reissner: „1924. Eine Reise durch die deutsche Republik“. Rowohlt, Berlin 2024, 272 Seiten, 24 Euro

Larissa Reissner war nie beim Ullstein-Verlag unter Vertrag, aber sie hat sich 1924 Zugang zum Verlagshaus verschafft. Ihre Reportage aus dem Bauch des Zeitungsgiganten oszilliert zwischen Faszination für den supermodernen Zeitungsvertrieb und süffisanter Kritik am Ullstein’schen Zeitungskosmos. So charakterisiert sie die BZ am Mittag als „eine kleine Pfütze, in der sich die Welt spiegelt … Man braucht diese Nachrichten überhaupt nicht zu kauen. Man braucht nur zu schlucken, und man ist informiert.“

Reissner ist im selben Jahr auch undercover bei Krupp in Essen und beim Flugpionier Hugo Junkers in Dessau. Sie schreibt im Vorwort zu „1924 – eine Reise durch die deutsche Republik“: „Ich wollte sehen, wo die Millionen Fäden und Kabel hinlaufen, (ich wollte zu den) Produktionswerkstätten von deutschem Geist und deutschen Kanonen.“ Es sind ihre besten Reportagen.

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