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Der Kommentar

Russische Aggression Der deutsche Selbstbetrug

Eine Augen-zu-Strategie der Bundesrepublik gegenüber der russischen Expansionspolitik in der Ukraine ist ein gefährlicher Selbstbetrug. Es braucht jetzt entschlossene europäische Machtpolitik.

Schon im Jahr 2019, beim G20-Gipfel in Osaka, waren Russlands Expansionsbestrebungen unübersehbar, Merkel und ihr damaliger Vize-Kanzler Scholz versuchten trotzdem, mit Plaudern etwas zu erreichen. Was hat sich seitdem geändert? Foto: Picture Alliance/dpa/Bernd von Jutrczenka

Von UDO KNAPP

taz FUTURZWEI, 25.01.22 | Der Dichter Franz Fühmann hat seine ganze poetische Lebenskraft gebraucht, um sich aus seiner Verwicklung herauszuarbeiten, erst in die Verbrechen der Nazis, dann die der Kommunisten. Unter dem Begriff „Wahrnehmungsbetrug“ hat der bedeutende DDR-Autor, dessen 100. Geburtstag gerade gefeiert wurde, das in große Literatur gefasst.

Im politischen Alltag der Bundesrepublik ist nun aus dem kollektiven Wahrnehmungsbetrug die Weigerung geworden, unbestreitbare Tatsachen handlungsleitend zur Kenntnis zu nehmen. Das politische Verhalten gegenüber der russischen Expansionspolitik ist ein solcher Wahrnehmungs-Selbstbetrug.

Unterstützung für russifizierende Separatisten

Schon 1989 hat Russland in Georgien und Moldawien versucht, die Verselbstständigung beider Staaten zu verhindern. Russland unterstützt seither in Abchasien und Transnistrien russifizierende Separatisten bei ihren Versuchen, Abspaltungen von Teilen beider Länder zu verfestigen.

Russland hat unter Führung von Wladimir Putin 2014 die Krim annektiert. Im gleichen Jahr hat Russland in der Ostukraine mit Waffenlieferungen und nichtoffiziellen Truppen begonnen, die dortigen Separatisten zu unterstützen. In diesem unerklärten Krieg sind bis heute etwa 14.000 Russen und Ukrainer umgekommen. Russen und Separatisten haben am 17. Juli 2014 mit russischen Luftabwehrraketen eine Passagiermaschine abgeschossen. Bei diesem Terrorakt sind 298 Passagiere, vor allem Niederländer, umgebracht worden.

Um die Ukraine zu destabilisieren, sind 2011 die Ostseepipeline Nordstream 1 in Betrieb genommen und 2021 Nordstream 2 fertig gestellt worden. Unterstützt wurde das vom deutschen Ex-Kanzler Schröder (SPD) und allen Bundesregierungen bis heute. Die Einwände der osteuropäischen Nachbarn wurden ignoriert.

Syrien, Belarus, Kasachstan, Ukraine

Seit vielen Jahren kämpfen russische Soldaten in Syrien für den Erhalt der Macht des Massenmörders Assad.

Russland hat 2021 die Niederschlagung aller Versuche abgesichert, in Belarus gegen den Diktator Lukaschenko demokratische Verhältnisse durchzusetzen.

In Russland hat Putin seine Macht mit der Unterdrückung jeder Opposition ausgebaut. Alle potentiellen Regimegegner sind nach Scheinprozessen in Straflager weggesperrt.

Vor kurzem hat Putin mit Fallschirmjägern in Kasachstan bei der Niederschlagung einer Oppositionsbewegung gegen die regierenden Klepto-Diktatoren geholfen.

Seit einigen Monaten bereitet sich Russland auf einen Einmarsch in die Ukraine vor. Dazu sind etwa 100. 000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine stationiert worden.

Einen Versuch der Eindämmung dieser Expansionspolitik gibt es nicht.

Baerbocks europäisches Haus

Jede Forderung nach einer Politik der Abschreckung wird in der Öffentlichkeit als Kriegstreiberei bezeichnet und mit Hinweis auf die deutschen Verbrechen im II. Weltkrieg ausgeschlossen. Diese Politik der Verharmlosung ist bis heute in der Bundesrepublik unbestritten und zwar parteiübergreifend.

Die neue Außenministerin Annalena Baerbock (Die Grünen) hat diese Politik soeben auf einer Pressekonferenz in Moskau bekräftigt. „Wir wollen mit Russland in unserem europäischen Haus in gemeinsamer Verantwortung, schon aus unserer Geschichte heraus, zusammenleben. Wir brauchen Russland als das größte Land der Erde bei der Bewältigung der Klimakrise als Partner an unserer Seite“, sagte sie.

Chefdiplomaten: Annalena Baerbock und Sergeĭ Lawrow am 18. Januar 2022 in Moskau Foto: Picture Alliance/dpa/Pool Reuters/AP/Maxim Shemetov

Zugleich hat Baerbock die russische Politik gegenüber der Ukraine scharf verurteilt, gleichzeitig aber jede Waffenlieferung für die Ukraine ausgeschlossen. Für den Fall eines russischen Einmarsches hat sie wirtschaftliche Sanktionen angedroht. Die Nichtinbetriebnahme von Nordstream 2 ist allerdings davon ausgeschlossen.

Bundesrepublik an Russlands Seite

Auch klare Aussagen von Bundeskanzler Scholz (SPD), der Ukraine beizustehen, gibt es nicht. Eine Lieferung „letaler Waffen“ schließt er aus. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Mützenich schlägt ein europäisches Sicherheitssystem unter Einbeziehung Russlands vor, welches die NATO langfristig ersetzen soll. Im Streit der Großmächte sieht er die Bundesrepublik eher an der Seite Russlands denn an der Seite der USA.

Ein Ausschluss aus dem Swift-Finanzierungssystem für den Welthandel würde zur direkten Abkopplung Russlands vom Weltmarkt führen und hätte unmittelbare Folgen für die russischen Wirtschaft. Das würde aber auch die amerikanische und die deutsche Wirtschaft hart treffen, weshalb die USA und auch der neue CDU-Vorsitzende Friedrich Merz das schon wieder eingepackt haben.

Was tun? Außenministerin Baerbock hat für ihre Kommunikationslinie „Dialog und Härte“ in der Mediengesellschaft viel Zustimmung bekommen. Es klingt auch gut. Genau betrachtet ist es aber ein stumpfes Schwert.

Frankreichs Atomwaffen

Putin ist mit wirtschaftlichen Sanktionen nicht zu beeindrucken. Die EU und Deutschland muss er militärisch nicht ernst nehmen. Mit ihnen muss er auch gar nicht über die Ukraine reden. Allein die USA könnten ihn mit einer massiven Stationierung offensiver Waffen in der Ukraine zum Nachdenken zwingen.

Zu einer solchen Politik würde auch eine europaweit abgestimmte Lieferung aller erforderlichen Waffen gehören, um die kleine Chance zu eröffnen, einen Durchmarsch der russischen Truppen bis nach Kiew erst einmal aufzuhalten. Schweden und Finnland müssten der NATO beitreten, und die Stationierung der NATO-Truppen in den baltischen Ländern und in Polen wäre massiv zu verstärken.

Frankreichs Präsident Macron hat dem Europaparlament in der letzten Woche einen weiteren Baustein einer selbstermächtigenden Strategie der freiheitlichen Demokratien Europas präsentiert: „Die Sicherheit unseres Kontinents erfordert eine strategische Wiederaufrüstung unseres Europas, um eine Macht des Friedens und des Gleichgewichtes zu werden“, sagte er. Die Europäer sollten sich in eine Position bringen, „in der diese respektiert werden“. Macrons Ansage ist ein Angebot an die EU, die französischen Atomwaffen zu europäisieren, aus der „force de Frappe“ eine „nukleare Streitmacht Europas“ zu machen.

Europäische Abschreckungspolitik

Mit solchen entschlossenen Schritten könnte die Expansionspolitik Russlands ausgebremst werden und die Souveränität demokratischer Staaten geschützt. Es ist sogar vorstellbar, dass dann die EU an der Seite der USA mit Russland Verhandlungen über den Rückbau der Atomwaffen überall auf der Welt wieder aufnehmen könnte.

Mit einer auf Abschreckung orientierten europäischen Machtpolitik gegenüber Putin ist aber nicht zu rechnen. Viel wahrscheinlicher ist es, dass der Westen die Ukraine den Russen ohne ernsthaften Widerstand überlassen wird.

Franz Fühmanns Wort vom Wahrnehmungsbetrug beinhaltet ja, dass die Folgen der absichtlichen Selbsttäuschung erst im daraus folgenden Unheil begriffen werden. Das ist offensichtlich fester Bestandteil der Politik in den demokratischen Gesellschaften des Westens. Beunruhigende Aussichten.

UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen.